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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition)
Autoren: Thorsten Nesch
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Husten.
      Ein Zischen übertönte sekundenlang die Musik. Ein Druckbehälter hatte sich entleert.
      Ich räusperte mich und erschreckte über meinen hörbaren Anflug von Panik. Dreimal atmete ich tief durch, um mich zu beruhigen. Meine Lungenflügel pfiffen beim Luftholen. Die kleinsten Staubpartikel mussten ihren Weg bis in die feinen Verästelungen meiner Bronchien gefunden haben.
      „Hilfe!“
      Ich horchte nach einer Antwort, eines Retters, eines Mitreisenden, des Mädchens, aber ich hörte nur den Bass ihrer Hip-Hop-Musik.
      Der Gedanke an eine mögliche Querschnittlähmung traf mich unvorhergesehen und mit der Wucht einer schlechten Nachricht. Schließlich presste der Schuttberg meinen Körper unterhalb der Brust unnachgiebig in den Dreck, ebenso meinen rechten Arm. Wenn ich mich selbst vom Gegenteil überzeugen wollte, so schaffte ich das nur durch eine gezielte Bewegung, einen Beweis, dass mir meine Glieder noch gehorchten.
      Ich hielt den Atem an, konzentrierte mich auf die Finger meines eingeklemmten Arms und meine Zehen. Ganz eindeutig spürte ich meine Fingerspitzen, während die Sehnen in meinem Unterarm bei jeder Bewegung auf einen scharfen Widerstand stießen.
      Bei den Füßen gestaltete sich der Versuch schwieriger. Soweit ich es beurteilen konnte, lagen die Beine zwar eng aneinander, aber meine Füße konnten sich dennoch nicht finden. Ich bewegte sie, zumindest glaubte ich das. Aber fühlten Amputierte nicht auch ihre abgetrennten Glieder?
      Verzweifelt versuchte ich, meine Füße aneinander zu reiben. Endlich spürte ich die Sohle des einen Fußes an der Ferse des anderen. Mein linker Schuh fehlte. Ich lächelte erleichtert.
      Ob der andere Schuh gleich neben meinen Füßen lag? Warum verlor man bei Unfällen die Schuhe? Fernsehbilder tauchten vor meinen Augen auf, von verlassenen Schuhen auf Asphalt.
      Meine Schuhe waren keine Woche alt. Schwarze Lloyds, gekauft bei Delacroix. Beim Anprobieren hatte ich einen Martini gereicht bekommen, sogar an die Olive dachten die bei Delacroix.
      Ich lachte irre auf, woran ich gerade dachte! Gleichzeitig stiegen mir Tränen in die Augen, meine Nasenschleimhäute schwollen an, verstopften, und ich begann, schwer durch den Mund zu atmen. Staub benetzte pelzig meine Zunge, meinen Hals. Es folgte ein weiterer Hustenanfall, und ich schnaubte Schleim durch meine Nase aus. Dazu drehte ich meinen Kopf an Seite, den Rest rieb ich von der Wange in mein Sakko. 
      „Beruhig dich!“, ermahnte ich mich. Ruhe. Einatmen, ausatmen, langsam, ganz langsam.
      Ein.
      Aus.
     
     
    Das Wichtigste war, dass ich im Grunde genommen unverletzt war.
      Den anderen Puffer der Lokomotive vermutete ich weiter rechts im Boden. So schräg, wie sich das Vorderteil der Lokomotive über mir wandte, hatte es den Anschein, als balancierte die Lok, bereit für eine Pirouette aus 100 Tonnen Stahl, während ihr Scheinwerfer an seinen Kabeln einem zerstörten Auge gleich aus dem verbeulten Torso hing.
      Plastik, Glas und Metalltrümmer hatten sich links und rechts von mir in den Boden gebohrt. Überall große und kleine Stangen, Streben, Schläuche, Drähte und Splitter, eine farblose, wie von einem riesigen Skalpell sezierte Schuttlandschaft, durch die der Stirnscheinwerfer sein bizarres Schattenmuster warf. Und ich war ein Detail dieses stählernen Stilllebens.
      Die Musik wurde leiser. Meine gesamte Aufmerksamkeit wurde von den ruhiger werdenden Beats aufgesogen, meine Ohren klammerten sich an die letzte Note, als könnten sie das Unvermeidbare verhindern. Bis nichts mehr zu hören war. Ein vollbesetzter Zug und niemand rief, schrie oder stöhnte. Hunderte Tonnen Stahl und Motoren, und keine Schraube fiel zu Boden.
      Langsam legte mir die Stille ihre Hände um den Hals.
      „Hilfe!“, rief ich, um nur die Stille zu durchbrechen.
      In meinem Loft, einer umgebauten Lagerhalle, wo es dank der modernen Fenster und den dicken Wänden ansonsten still war, hörte ich ständig Musik. Sie lief zu jeder Tageszeit, ob ich zu Hause war oder arbeitete, schlief oder wachte. Morgens ließ ich mich mit programmierter Musik wecken, deren Lautstärke automatisch um 6.30  Uhr hochfuhr, und ich schlief zur Musik ein, nachdem sie um Mitternacht leiser wurde, manchmal auch vorher. Über 4000 gespeicherte Titel spielten den Soundtrack zu meinem Leben. Ganz gleich welcher Stil, welche Richtung, ich war kein fanatischer Sammler, ich hörte, was ich gut fand: Alt, neu, Pop oder
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