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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition)
Autoren: Thorsten Nesch
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Stimme.
     
     
    Ich war nicht sicher, ob er wirklich mir geantwortet hatte, „Na, Herr Baehr ...“
      Er räusperte sich und holte tief Luft, sein Blick entrückte mir und haftete sich unter die Trümmerdecke, als stünde dort die ganze Geschichte geschrieben, und er müsste sie einfach ablesen, „Ich war in der Hitlerjugend. 1940. Mein Vater war auf Fronturlaub bei uns zu Hause, den Polenfeldzug hatte er mitgemacht. Ich wollte Heldengeschichten hören, stattdessen erzählte er von wimmernden Männern, verwundet oder nicht.“
      „Aber ...“
      „Gelöchert habe ich ihn mit Fragen. Ob er einen Feind erschossen hatte? Er sagte, das habe er nicht genau gesehen, aber er hatte Kameraden fallen sehen, auch Zivilisten, Tote, viele Tote, Frauen, Kinder. Krieg sei für nichts gut, sagte er, und ich schrie auf, natürlich war der Krieg gut, er war nötig, gerecht und gut! Nicht für deinen Papa, sagte er damals, nicht gut für deinen Papa. Dabei sollte ich doch stolz auf ihn sein. Wie konnte ich da stolz sein? Und er erzählte, wie sie den Stacheldraht um das Ghetto zogen in Litzmannstadt, in Lodz. Und er sagte, die ganze Zeit haben uns die Menschen zugeschaut. Juden, sagte ich. Genau, sagte er, Männer, Frauen und Kinder, und er habe den Stacheldraht verlegt, und es gab den Schießbefehl, ohne Warnung zu schießen auf Leute, die versuchten das Ghetto zu verlassen, und auch wenn es Juden waren, das war nicht recht, sagte er, der Krieg ist nicht recht, die Partei ist nicht recht.“
      Er räusperte sich, schluckte einen Schmerz herunter.
      „Das war damals für mich, als hätte er mir gesagt, ich sei nicht mehr sein Sohn. Mutter verließ die Wohnstube. Ich lief zu meinen Freunden, ich wollte es eigentlich niemandem erzählen. Dem Kalle hatte ich es dann doch erzählt, der war damals mein bester Freund. Er muss es dem Gauleiter gesagt haben, denn der zitierte mich am nächsten Tag zu sich, ohne einen Grund zu nennen. Er sagte mir, was für ein prächtiger Kerl ich sei, und wenn ich so weitermachte, dann würde mir eine große Zukunft bevorstehen, einem Kerl wie mir. Wir redeten über Freunde und dann über die Familie, und er verstünde, wenn man in schwierigen Situationen Zweifel hegen würde. Darüber kamen wir auf meinen Vater zu sprechen. Beim Abendessen klopfte es dann an der Tür. Zwei Feldjäger holten ihn ab. Der eine zog ein Bajonett aus dem Koppel und schenkte es mir. Ein Bajonett als Tausch gegen meinen Vater. Wir haben ihn nie wieder gesehen, auch keine Nachricht. Er fiel an der Ostfront, ein Jahr später, als Pionier, Strafbataillon. Nicht einen Brief hatte er angeblich geschrieben. Obwohl, ich bin mir sicher, geschrieben hatte er, wenn er durfte, aber zugestellt wurden die Briefe nicht. Mutter war danach nicht mehr die gleiche, auch nicht meine Geschwister, nur das Jungvolk, Hitlerjugend und die Partei waren für mich da. Später bin ich dann selbst an die Ostfront. Stalingrad. Als ich 1956 wiederkam, war Mutter bereits viele Jahre tot. Das Ende des Krieges hatte sie schon nicht mehr erlebt. Am gebrochenen Herzen sei sie gestorben, sagten mir Ilse und Hertha, meine Geschwister. Das mussten sie mir noch sagen. Danach gingen sie aus meinem Leben und brachen den Kontakt zu mir ab. Ilse und Hertha haben mir nie verziehen. Weder sie noch ihre Kinder habe ich jemals zu Gesicht bekommen.“
      Er stöhnte leise.
      „Was sagen Sie jetzt, Herr Ochs?“
     Was sollte ich sagen? Was erwartete er? Die Absolution für seine Beichte? „Haben Sie das schon einmal jemandem erzählt?“
      „Nein.“
      „Ich glaube ... Sie haben damals ... als Kind das ...“
      „17, ich war 17 Jahre alt!“, brüllte er mich an, und eine dünne Blutspur rann aus seinem Mundwinkel die Wange herunter und zerfaserte im Wasser.
      „Dass Sie damals als Jugendlicher das gemacht haben, was Sie dachten, wäre richtig ...“
      „Meinen eigenen Vater ausliefern?!“
      „Sie wussten ja nicht, was passieren würde.“
      „Nicht? Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was ich wusste. Ich kann mich nicht mehr erinnern, vielleicht will ich auch nicht.“
      Irgendwo verbog sich quietschend der Stahl. Mein Kopf flog in die Richtung, als erhoffte ich eine Ablenkung, dass etwas passierte, das uns aus diesem Gespräch herausführte.
      „Klappen Sie das Feuerzeug zu. Seien Sie nicht so unvernünftig, Herr Ochs“, sagte er.
      Ich hörte nicht auf ihn. Die Flamme waberte ruhig in der Windstille zwischen uns und den
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