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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition)
Autoren: Thorsten Nesch
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schütter. Das Gesicht von Herrn Baehr hatte weiche, fast zufriedene Züge, und sein weißes Haar trieb im Wasser wie eine fluoreszierende Algenart. Die Brühe reichte ihm bis knapp unter die Ohren.
      Ich klappte das Feuerzeug zu, um Benzin zu sparen. Der Deckel des Zippos glühte angenehm warm in meiner Hand.
      Sollte ich ihn aufwecken? Sollte ich versuchen, aus dem Trümmerberg zu entkommen und Hilfe holen?
      Herr Baehr musste so schnell wie möglich in ein Krankenhaus. 
      Die vergangenen Unterhaltungen kehrten zurück in meine Erinnerung. Hätte ich mich mit ihm gestritten, hätte ich um seine Lage gewusst?
      Ich holte tief Luft. 
     
     
    Aus dem Chaos unregelmäßiger Geräusche wie dem gelegentlichen Bersten von stählernen oder hölzernen Stützen, dem Glucksen des steigenden Wassers und dem Ächzen sich verbiegenden Stahls vernahm ich einen einfachen Rhythmus. Drei leise Schläge, dann Stille, und wieder ein, zwei, drei Schläge. So einfach, so menschlich.
      Ich schnickte das Zippo an und griff mir eine metallene Scheibe, die neben meinem Knie im Wasser lag. Ich wartete einen weiteren Dreierrhythmus ab, dann schlug ich gegen den Stahl, viermal, um eine mögliche Fehlinterpretation als Echo auszuschließen.
      Herr Baehrs Augenlider zuckten.
      Ich horchte angestrengt, hielt dazu sogar den Atem an.
      Wieder das Klopfen. Das mussten Rettungsmannschaften sein. Das konnte niemand anders sein.
      Ich schlug, so laut ich konnte, gegen den Stahl. Der helle Ton schmerzte in meinen Ohren.
      Herr Baehr bäumte seinen Oberkörper auf, dass sich die Arme in ihren gewalttätigen Verankerungen spannten, dann riss er die Augen weit auf und hob seinen Kopf an. Ein langgezogenes Stöhnen folgte, bei dem sein gesamtes Lungenvolumen an Luft herausströmte. Tief und laut sog er die Luft ein, um im nächsten Moment zu rufen, „Sie haben die Zellentür offen, die Russen holen wieder einen, nein, nicht den Fritz, nicht Fritz, Fritz ...“
      „Herr Baehr, wachen Sie auf!“
      „Lasst den Jungen! Der ist noch so jung, der hat ...“
      Die Flamme des Benzinfeuerzeuges zuckte unruhig in dem Luftstrom unseres Geschreis.
      Mit meiner freien Hand hielt ich seinen Kopf fest und rief, „Sie träumen! Herr Baehr! Sie träumen!“
      Jäh verschwand der Albtraum in der Wirklichkeit, trübes Leben kehrte in seine wässrigen Augen zurück.
      „Sie haben geträumt.“
      „Was ... habe ich geträumt?“
      „Sie haben vom Krieg geträumt, einer Zelle. Die Russen haben Fritz geholt?“
      Er schloss die Augen und wandte das Gesicht ab. Dabei schien ihn das Wasser nicht zu stören.
      Ich lauschte nach dem Klopfen, aber es blieb ruhig.
      Herr Baehr redete sehr leise, „Das war damals ... in der Kriegsgefangenschaft.“
      „Davon träumen Sie immer noch?“
      Er warf mir einen beinahe jugendlichen Blick zu, wenn Du wüsstest. „Die Träume verfolgen einen das ganze Leben lang, vielleicht nicht jede Nacht, vielleicht nicht jede Woche, aber sie kommen wieder.“
      „Ah“, brachte ich nur raus.
      „Ja, und wenn Sie hier rauskommen, wird Sie das auch Ihr Leben lang begleiten in ihren Träumen.“
      Ich zögerte mit meiner Antwort. „Wir kommen hier raus!“
      Wieder lächelte er leicht, und ich glaubte, ein sanftes Kopfschütteln zu erkennen.
      Sollte ich hier rauskommen, würde ich sofort ins Krankenhaus eingeliefert werden, und dort müsste ich eine Weile bleiben. Ich hatte mittlerweile einige Verletzungen. Ärzte und Schwestern würden meinen Gesundungsprozess beobachten und mich pflegen. Ein paar Tage bräuchte ich mich um nichts zu kümmern. Der Gedanke gefiel mir. Vielleicht würde mir das so gut gefallen, dass ich danach eine kleine Auszeit nehmen würde, von der Arbeit, von der Beziehung, der Affäre, von allem, eine Woche in den Bergen, alleine, und ich könnte mir Gedanken machen, was ich wirklich möchte, ohne die Ablenkungen des Alltags. Das wäre etwas völlig Neues.
      Herr Baehr stöhnte.
      „Ich muss Sie aufgeweckt haben mit meinem Klopfen“, sagte ich, „Ich hatte geklopft, weil ich ... die Rettungsmannschaften gehört habe.“
      „Wirklich?“
      „Dreimal wurde geklopft, leise, in einem Rhythmus, ich habe geantwortet.“
      „Und?“
      „Ich habe nichts mehr gehört.“
      Er verzog sein Gesicht vor Schmerz, „Vielleicht war es nur jemand anders, hier zwischen den Trümmern.“
      „Das glaube ich nicht. Der oder die hätte sich schon früher
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