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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition)
Autoren: Thorsten Nesch
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nein, einfach so?“
      „Unaufmerksamkeit, Jugend, ich war ja gerade mal 12 Jahre alt. Es war einfach geschehen, ich kann gar nicht genau sagen wie, überall Blut zwischen den umgemähten Halmen, mir wurde schlecht ...“
      „Und dann gings ins nächste Krankenhaus!?“
      „Das war 40 Kilometer weit weg. Eine weite Strecke, wenn niemand ein Auto hat außer dem Gutsbesitzer, und der war gerade unterwegs. Ich glaube, er war in Köslin. Auf jeden Fall hat mein Vater sich das Hemd ausgezogen und mir um Zeh und Fuß gewickelt, so dass ich meinen dicken Zeh nicht verlieren konnte, auf dem Weg zum Bahnhof. Er und Onkel Karl haben mich dann abwechselnd dorthin getragen. Aber damals kamen die Züge nicht im 5-Minuten-Takt, wir mussten lange warten, lange. Als der Zug endlich kam, wechselten sie das durchgeblutete Hemd meines Vaters. Onkel Karl zog seines aus und wickelte es mir um den Fuß. Sie legten mich auf eine der Holzbänke. Mir war vielleicht schlecht. Gegenüber von mir mein Vater und Onkel Karl, beide mit nacktem Oberkörper. Dauernd erklärten sie anderen Reisenden, was passiert war, und alle wünschten mir viel Glück. Das musste geholfen haben, denn sie brachten mich gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus, wo ein nach Schnaps stinkender Arzt mir meinen Zeh wieder annähte. Etwas später, und er hätte ihn abnehmen müssen, sagte er. Da hatte die Eisenbahn meine Zukunft gerettet, ansonsten hätte ich ganz schlimm durchs Leben humpeln müssen. Sie wissen, ohne großen Zeh kann man sehr schlecht laufen.“
      „Das glaube ich.“ Ich zwängte mich durch eine geborstene Platte, über Brust und Rücken kratzten die gezackten Enden, wie der geöffnete Rachen eines riesigen Raubtieres. Meiner Stimme war die Anstrengung anzuhören, „Aber was ... was hatte sich dann in Ihrem Leben geändert?“
      „Ach so, ja, damals stand ich kurz vor meiner Ausbildung, und alle Weichen für meine Zukunft waren auf Landwirtschaft gestellt. Bis eben zu meinem Unfall. Danach war ich mir nicht mehr sicher, und meine Eltern unterstützten mich, und nachdem mein Vater mit dem Gutsherrn und anderen Leuten gesprochen hatte, schlugen sie mir die Schmiede vor. So lernte ich Schmied. Dadurch kam ich später auch zur Firma Ziegler.“
      „Und wie war es in der Schmiede?“
      „Der Schmied, der Herr Domarski, der war, wie gesagt, ein sehr netter Mann. Wir arbeiteten harte und lange Stunden. Wenn um sechs Uhr abends noch ein Gespann reinkam, dann musste das ja gemacht werden, das waren noch mal acht Eisen. Zur Erntezeit kam ich da manchmal erst um zehn oder elf Uhr abends nach Hause. Und morgens ging es ja gleich wieder um sieben Uhr los ...“
      Plötzlich hörte ich seine Stimme direkt neben mir, als wäre ein Vorhang aufgezogen worden. „Herr Baehr! Herr Baehr!?“
      Er unterbrach seine Geschichte, „Sind Sie da?!“
      „Ich sehe Sie nicht, aber Sie müssen hier ...“, meine linke Hand traf einen Schuh, einen Lederschuh, der seitlich flach auf dem Boden lag. Ich kniff in die Spitze und spürte den Widerstand der Zehen.
      „Ist das ihrer?“, fragte ich.
      „Was?“
      Ein Schauer durchströmte mich. Das konnte nicht wahr sein. War das etwa nicht der Fuß von Herrn Baehr, obwohl seine Stimme so nahe klang? Hatte ich einem Toten in die Zehen gezwickt? „Ich hab gerade in ... einen Schuh ... gekniffen.“
      „Könnte meiner gewesen sein, ich spüre nichts, von meinen Knien runter sind meine Beine zerquetscht.“ 
      In der Tat fühlte ich gleich in Knöchelhöhe einen Gegenstand. Aber ich wusste nun, in welcher Richtung er lag.
      „Sie sind da, Herr Ochs!“
      Ich konnte in die Hocke gehen. Auf allen Vieren kroch ich parallel zu seinen Beinen, ohne etwas zu sehen, Richtung Stimme, Richtung Kopf.
      Sein ganzer Körper lag im seichten Wasser. 
      „Herr Ochs, hier!“
      Mit dem Kopf stieß ich gegen etwas, und Herr Baehr schrie jämmerlich auf.
      „Entschuldigung“, stotterte ich, überrascht, was los war, „wo ist ihr Feuerzeug?“
      Sein Jammern wurde rasch leiser, bis zur Stille.
      „Herr Baehr, wo ist das Feuerzeug?“
      Keine Antwort. Durch den Schmerz war er ohnmächtig geworden.
      „Wachen Sie auf!“
      Hatte er nicht gesagt, in der Jacke?!
      Sein Atem klang mühsam, seine Lunge rasselte.
      Ich ließ meine Hand dem Geräusch folgen und traf sein Kinn, die schlaffe Haut eines alten Mannes. Von dort tastete ich mich herab zum Brustkorb. Schwer hob und senkte er sich.
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