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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition)
Autoren: Thorsten Nesch
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quer über mein dunkles Firmament aus Stahl.
      Ich wusste, würde ich hier sitzen bleiben und warten, ich würde durchdrehen.
      In 360 Grad Umkreis gab es kein noch so kleines Licht, keinen Punkt, nichts, und kein menschliches Zeichen drang von der Außenwelt bis in dieses Verlies.
      Vorsichtig tastete ich mit meiner Hand nach etwas Greifbarem durch die Finsternis. Die Verletzung an meinem Handballen brannte, und zwischen meinen Rippen schien ein kurzes Messer zu stecken, gerade lang genug, um mir ständige Schmerzen zu bereiten, mich aber nicht ernsthaft verwundet zu haben. Fühlten sich so gebrochene Rippen an? In meinem Kopf wummerte es, und ich fror an meinem ganzen Körper. Wie sollte ich es so schaffen? Ich zog die Hand zurück, kämpfte gegen die Tränen, gespeist aus Verlust und Aussichtslosigkeit.
      Mit wiederholtem Räuspern klarten meine Gefühle wieder auf.
      „Nein, nein, ich lebe noch, und ich bin nur leicht verletzt!“, sagte ich mir.
      Meine Stimme klang fremd, als hätte ich mich eine Ewigkeit nicht mehr selbst sprechen gehört. Ich musste weiter.
      Ich zog die Socken aus, weil ich glaubte, so eine bessere Standfestigkeit auf dem glatten Stahl zu erlangen. Lautlos fielen die Strümpfe in die Tiefe, als würden sie dort von ein paar unsichtbaren Händen gefangen.
      Meine Hose riss der Länge nach auf, da ich über unsichtbare Trümmer rutschte und kletterte. Ohne zu sehen, wo es lang ging, schlug ich mir abermals den Kopf an. Die wievielte Prellung war das, der wievielte Bluterguss?
      Bei der nächsten Bewegung gab eine Stütze nach, und ich ratschte an einer scharfen Kante vorbei, bevor der Fuß auf einer schmalen Stange zu ruhen kam. Ich tastete nach der neuen Wunde. Von meinem rechten Knöchel hing ein Hautlappen. Und ich konnte nichts dagegen tun.
      Da es rauf und runter und nach links und rechts ging, war die Strecke, die ich zurückgelegt hatte, schwer zu schätzen. Es mochten genauso gut zwei wie vier Meter sein.
      Als ich waagerecht mit der Hüfte auf einem dünnen Blech lag, setzte schlagartig ein Kreischen ein. Ich kniff die Augen zu und duckte mich. Es war ein maschinelles Kreischen, so schrill, dass ich mir mit beiden Händen die Ohren zuhalten musste. Zu allen Seiten schienen riesige Stahlplatten übereinander zu reiben und erzeugten dieses grässliche Geräusch.
      Doch es stoppte, für einige Sekunden, und begann erneut. Wieder und wieder. Es kam von Menschenhand. Eine Kreissäge stellte ich mir vor, jemand setzte die Säge wiederholt an, um Trümmerteile auseinander zu sägen, sich einen Weg zu mir zu bahnen. Das runde Blatt schnitt Funken schlagend durch Metall, gehalten von einem Feuerwehrmann mit Helm und Gesichtsschutz, kniend auf den Trümmern öffnete er den Körper zweier verkeilter Züge. Und er konnte nicht weit weg sein, so laut und schön, wie das Sägen klang.
      Ich rief um Hilfe, erst während der wunderbaren Symphonie der Hoffnung, dann, wenn der Solist sein Instrument ruhen ließ. Aber ich bekam keine Antwort. Ich schlug mit Metall gegen Metall, denn auch das Singen der Säge musste entlang verbogener Stahltrümmer bis zu mir geleitet werden. Eine Richtung konnte ich nach wie vor nicht benennen.
      Mein Klopfen blieb ohne Erfolg, aber dieses klare Zeichen aus der Oberwelt zog mich zu sich. Schon stieß ich mich vorsichtig mit einem Fuß ab, verlor aber unerwartet mein Gleichgewicht.
      Was immer ich mit meinen Händen umschlossen gehalten hatte, erwies sich als zu lose für mein Gewicht. Hilflos kippte ich vorne über in die Schwärze. Ein Loch tat sich auf, und ich erwartete einen harten Aufprall. Der blieb aus. Stattdessen bekamen meine Knie einen Schlag ab, und hinter mir dröhnte und krachte es, und ich tauchte ein ins Wasser, in tiefes, eiskaltes Meerwasser. Trümmerteile stürzten auf meinen Rücken und drückten mich weiter hinunter. Ich biss mir auf die Zunge, um nicht zu schreien, um nicht diesen letzten Luftzug, den ich während meines Sturzes eingeatmet hatte, zu vergeuden.
      Salzwasser drang in die Nase ein, in die Ohren, und die Augen aufgerissen, brennend, in der nassen kalten Dunkelheit. Hinter mir klammerten sich einige der Trümmerteile an meine Beine, während andere schoben oder mich zur Seite drängten. Ich drehte mich, bis ich nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Reflexartig schwamm ich zuerst mit den Armen, dann strampelte ich mich mit meinen Beinen frei, unterdrückte das übermächtige Bedürfnis zu atmen und
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