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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition)
Autoren: Thorsten Nesch
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mich gedacht hatte.
      Dachte jetzt jemand an mich? Genau in diesem Augenblick? Schluckauf hatte ich keinen. Ich hielt kurz inne und schüttelte den Kopf bei dem Gedanken an die Bauernweisheit. Vermisste mich jemand? Als Erstes wohl Lilli, weil sie mich im Hotel erwartete.
      Sobald die Katastrophe in den Nachrichten war, würde auch Francesca davon wissen. Ihre Eltern würden mich nicht sehr vermissen.
      Ich hatte nie verstanden, was sie gegen mich hatten. Eigentlich war ich eine sogenannte gute Partie, allein den Zahlen nach, auf den Konten und Depots.
      Und wer würde mich vermissen, wenn ich sterben würde? Und wie lange?
      Weißt du noch der Thomas ...?
      Welcher Thomas?
      Der Thomas ... Ochs, hieß er, glaube ich.
      In meiner Zivildienstzeit hatte ich den Satz zum letzten Mal gehört: „Ich habe Sie schon vermisst!“
      Damals kam ich eine halbe Stunde zu spät bei den Kaniewskis an, weil der Polo, den ich eigentlich nehmen sollte, morgens nicht ansprang. Er war der älteste Wagen im Fuhrpark, und es war nur eine Frage der Zeit, wann der Anlasser seinen Geist aufgeben würde. Es erwischte mich. Bis ich den zuständigen Kollegen informiert und mir ein neuer Wagen zugeteilt wurde, verging eine halbe Stunde. Diese halbe Stunde nahm ich mit auf meine Pflegerunde von Person zu Person, und bei allen hörte ich, „Ich habe Sie schon vermisst“, sogar bei Frau Koll, die unter Gedächtnisverlust litt. Und plötzlich stieg in mir dieses Gefühl der Erfüllung als Erinnerung auf, Menschen geholfen zu haben, weil ich gebraucht wurde, auf einer menschlichen Art und Weise. Ich bereute, dieses Gefühl verloren zu haben, das ich nach jedem Tag Zivildienst hatte: gebraucht zu werden. Niemand brauchte Thomas Ochs, den Broker.
      Markus würde sich wundern, wenn ich nicht gleich am Montagmorgen auf eine seiner albernen SMS reagieren würde.
      Hatte Markus Wünsche? Wir hatten nie darüber gesprochen, wir hatten nie über etwas gesprochen, das man nicht sehen oder zählen konnte. Ich würde ihn fragen, sollte ich die Chance dazu bekommen. Was würde er darauf antworten? Er würde das Gesicht verziehen, mindestens. So, wie ich ihn einschätzte, würde er es ins Lächerliche ziehen, vermuten, ich hätte meine esoterische Ader entdeckt, er würde fragen, ob ich mir lange Haare und einen Bart wachsen lassen würde. Oder täuschte ich mich in ihm? Um mich zu täuschen, müsste ich ihn kennen. Kannte ich überhaupt jemanden? Was waren Francescas Wünsche? Familie, Kinder, eins, glaube ich, zum richtigen Zeitpunkt. Ich nickte damals. Gibt es den?  
      Ich zwängte mich durch eine dreieckige Enge. Alles, was ich an meinen Schultern, Rücken und Rippen spürte, war ein Dreieck aus Stahl. Um mich dort durchzuwinden, musste ich meine Hüfte drehen und das Gewicht verlagern.
      „... und mit den Polen hatte ich nie Probleme. Ich weiß bis heute nicht, was da manche unserer Landsmänner gegen hatten, oder haben. Mein bester Freund als Kind war der Jurek, was hatten wir einen Spaß, das kennt die Jugend heute gar nicht mehr, und meine Ausbildung damals, der Herr Domarski, der war Pole, und später kam ich bei einem alten Mann unter, und der war auch Pole. Alles feine Menschen, auch ihre Familien, ich kann nur Gutes über die Polen sagen. Naja, aber ich bin abgeschweift ... Herr Ochs, hören Sie noch zu?“
      „Natürlich, Herr Baehr, natürlich.“
      „Kommen Sie voran?“
      „Ja, es geht“, sagte ich und übertrieb dabei. Es war eine Schinderei. Immer wieder zwängte ich meinen halben Oberkörper in einen vermeintlichen Spalt, einen möglichen Pfad, nur um mich kurz darauf aus meiner Lage befreien zu müssen. Das Wichtigste war, nirgends stecken zu bleiben.
      Er erzählte weiter aus einer Zeit, in der ich nicht gelebt hatte und von einem Land, in dem ich noch nie gewesen bin.
     
     
    Ich schlang meinen Arm mit der verletzten Hand um einen großen Poller und vergrub meine Zehenspitzen tief im Schlick, so dass ich mit meiner freien gesunden Hand in der Dunkelheit nach einem Halt tasten konnte. Mein Kinn dümpelte durch das Wasser, und mein stoßender Atem wurde mir von der Wasseroberfläche zurück ins Gesicht gelenkt.
      Als ich in etwas Leichtes, Weiches, Spinnwebenartiges fasste, dachte ich zunächst an einen losen, zerfetzten Sitzbezug. Stoff auf jeden Fall. Der Schleier wurde dichter, je weiter ich nach oben griff. Ich zog, und schräg über mir raschelte es, und gerade als in meiner Phantasie das
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