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Karneval der Toten

Titel: Karneval der Toten
Autoren: M Grimes
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    Die Blutflecken auf dem Kleid des kleinen Mädchens verschwammen mit dem Glockenblumenmuster. Als hätte ihr jemand eine Hand voll Blütenblätter auf den Rücken gestreut.
    Richard Jury kniete im Rinnstein am unteren Ende der Hester Street, einer schäbigen Nordlondoner Straße, und starrte auf die mit dem Gesicht zur Seite liegende Leiche. Er konnte das Ganze nicht recht fassen. Eingehend betrachtete er das Mädchen – das helle Haar, die Augen, die seine Hand geschlossen hatte, das Blut, das aus dem rechten Mundwinkel auf den kleinen weißen Kragen des Kleidchens mit dem Glockenblumenmuster gelaufen war. Im Schein seiner Taschenlampe hatte er die Farbe der Blumen erkennen können. Selbst das Blut hatte im spärlichen Licht der Nacht blau ausgesehen. Wieder kam ihm der Gedanke in den Sinn – die Blutflecken hätten auch Blütenblätter sein können.
    Alles schien ihm auf Miniaturformat geschrumpft zu sein – das Kleid, die Leiche, das Blut -, als wäre es Teil einer Zaubergeschichte, wie bei Alice im Wunderland . Das kleine Mädchen könnte jeden Moment wieder aufwachen, die Blutspur würde verschwinden, sich wie ein Kondensstreifen am Himmel einfach auflösen, und die dunklen Flecken auf dem Kleid würden zerlaufen und nur die Blumen zurücklassen.
    Kein Mantel. Es war der erste März, und sie trug keinen Mantel.
    »Eine Ausreißerin vielleicht?«, mutmaßte Phyllis Nancy, die Gerichtspathologin, die neben ihm kniete.
    Jury war klar, dass sie diese Frage auch selbst hätte beantworten können. »Nein, das glaube ich nicht. Das Kleid sieht wie neu aus, sauber gewaschen und gebügelt.« Was er da sagte, klang ziemlich lächerlich, denn wen scherte es schon, ob das Kleid gebügelt war oder nicht. Doch irgendwie ging es ihm wie Phyllis. Er hatte das Bedürfnis, etwas zu sagen, egal was. Er musste etwas sagen, um das, was mit dem armen Kind geschehen war, auf Abstand zu halten.
    »Ja, da haben Sie Recht.« Der Saum ihres eigenen Kleids lag in einer Pfütze aus Regenwasser und allem, was der Regen mitgeschwemmt hatte. Vor einer Stunde hatte es noch wie aus Kübeln geschüttet.
    Jury hob den Saum an. Es war ein langes Abendkleid aus grünem Samt. Als Phyllis aus ihrem Auto gestiegen war, hatte sie in diesem Kleid richtig königlich ausgesehen. Smaragdohrringe, grüner Samt – man hatte sie in der Royal Albert Hall ausgerufen, und sie war sofort herbeigeeilt.
    Sie hatte sich auf beiden Knien neben ihm niedergelassen – ohne eine Unterlage, direkt auf dem harten Straßenpflaster. Ihre kniende Haltung hatte fast etwas Flehendes. »Ich drehe sie jetzt herum. Würden Sie mir helfen?«
    Er nickte. »Klar.« Sie brauchte keine Hilfe. Jury hatte sie mit Leichen hantieren sehen, die größer waren als er, hatte gesehen, wie sie sie hin und her drehte, als wären sie federleicht. Phyllis mochte wohl die zerfetzte Ausgangswunde nicht sehen, das Blut, in dem das kleine Mädchen lag. Gemeinsam drehten sie es mühelos um. Das Einschussloch war winzig klein, so als hätte sich sogar die Kugel kleiner gemacht, um zu der Geschichte zu passen.
    Jury meinte: »Wahrscheinlich eine.22er, in jedem Fall eine Kleinkaliberwaffe.«
    Phyllis Nancy sagte: »Richard, sie ist nicht älter als fünf oder sechs Jahre. Wer würde denn einem Kind in den Rücken schießen?«
    Jury gab keine Antwort.
    Um sie herum standen die anderen: die Polizisten, die diesen Straßenabschnitt mit gelbem Tatortband abgesperrt hatten, der Polizeifotograf, die Kollegen von der Spurensicherung und Kripobeamte vom Morddezernat. Auch das Paar war noch da, das die Leiche entdeckt hatte, als es gerade ins Auto steigen wollte (sie weinte, er hatte den Arm um sie gelegt). Der Leichenwagen. Und über allem blinkte Blaulicht. Die Polizei war ausgeschwärmt, um an sämtlichen Haustüren in der Hester Street anzuklopfen und nach Zeugen zu suchen. Trotz des geschäftigen Treibens herrschte jedoch eine merkwürdige Stille, als ob alle sich auf Zehenspitzen bewegten oder nur im Flüsterton sprachen. Es war die Art von Stille, die am frühen Morgen herrscht, bevor die schlafende Welt sich in die wache verwandelt. Alle bewegten sich ganz vorsichtig, als wollten sie die Kleine weiterschlafen lassen.
    Jury wandte sich erneut an Dr. Nancy. »Können Sie ungefähr sagen, wann es passiert ist, Phyllis?« Lange konnte es bestimmt noch nicht her sein. Das Mädchen lag zwar halb im Rinnstein, doch wäre die Leiche bestimmt aufgefallen. In dieser Gegend waren auch nachts noch Leute
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