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Die Loge

Die Loge

Titel: Die Loge
Autoren: Daniel Silva
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päpstlichen Schneider, ihm eine weiße Soutane anpaßten. Er wählte die kleinste der drei vorgelegten Soutanen und sah selbst darin noch wie ein kleiner Junge aus, der ein Hemd seines Vaters trägt. Als er auf den großen Balkon des Petersdoms hinaustrat, um Rom und die Welt zu begrüßen, reichte sein Kopf kaum über die Balustrade. Ein Gardist brachte einen Fußschemel, und als Lucchesi darauf stieg, ertönte aus der versammelten Menge ein ungläubiger Aufschrei. Ein italienischer Fernsehreporter betitelte den neuen Papst atemlos als »Pietro den Unwahrscheinlichen«. Kardinal Marco Brindisi, der Führer der Hardliner unter den Kurienkardinälen, nannte ihn im Stillen »Papst Zufallssieger der Erste«.
    Die Vaticanisti , die Beobachter des Vatikans, sagten daraufhin, die Botschaft des geteilten Konklaves sei eindeutig. Pietro Lucchesi sei ein Kompromißkandidat. Er habe den Auftrag, die Kirche kompetent zu führen, aber keine großen Initiativen zu ergreifen. Der Kampf um Herz und Seele der Kirche – so die Vaticanisti – sei auf einen späteren Zeitpunkt verschoben worden.
    Die katholischen Reaktionäre, Priester und Laien gleichermaßen, nahmen Lucchesis Wahl jedoch weniger wohlwollend auf. Für die Militanten besaß der neue Papst eine unbehagliche Ähnlichkeit mit einem rundlichen Venezianer namens Roncalli, dem die Kirche die doktrinäre Kalamität des Zweiten Vatikanischen Konzils verdankte. Innerhalb weniger Stunden nach Abschluß des Konklaves wimmelte es auf den Webseiten und in den Cyber-Beichtstühlen der Hardliner nur so von Warnungen und düsteren Prognosen. Lucchesis Predigten und öffentliche Äußerungen wurden nach Beweisen für Unorthodoxie durchsucht. Den Reaktionären gefiel nicht, was sie dabei entdeckten. Lucchesi würde Schwierigkeiten machen, das schien festzustehen. Lucchesi würde überwacht werden müssen. Man würde ihm seine öffentlichen Äußerungen vorschreiben müssen. Die Mandarine der Kurie würden dafür sorgen müssen, daß Pietro Lucchesi nicht mehr als ein Übergangspapst war.
    Lucchesi jedoch war der Überzeugung, die Kirche stehe vor zu vielen Problemen, als daß die Amtszeit eines Papstes vertan werden dürfe, auch nicht die eines unwilligen Papstes. Die Kirche, die er von dem Polen geerbt hatte, war eine Kirche in der Krise. In Westeuropa, dem Epizentrum des Katholizismus, war die Lage inzwischen so kritisch, daß vor kurzem eine Bischofssynode festgestellt hatte, die Europäer lebten, als existiere Gott nicht. Weniger Kinder wurden getauft, weniger Brautpaare entschieden sich für eine kirchliche Trauung, und die Zahl der Geistlichen war so zurückgegangen, daß bald die Hälfte aller Gemeinden keinen eigenen Pfarrer mehr haben würden. Lucchesi brauchte nur seine eigene Diözese zu betrachten, um zu sehen, vor welchen Problemen die Kirche stand. Siebzig Prozent der zweieinhalb Millionen römischen Katholiken waren für Scheidung, Geburtenkontrolle und vorehelichen Geschlechtsverkehr – lauter Punkte, die ihre Kirche offiziell verbot. Weniger als zehn Prozent machten sich noch die Mühe, regelmäßig zur Messe zu gehen. In Frankreich, der sogenannten »Ersten Tochter« der Kirche, sahen die Statistiken noch bedrohlicher aus. In Nordamerika verzichteten die meisten Katholiken darauf, die Enzykliken des Papstes zu lesen, bevor sie gegen sie verstießen, und nur ein Drittel von ihnen besuchte die Messe. Obwohl siebzig Prozent aller Katholiken in der Dritten Welt lebten, bekamen die meisten dort nur selten einen Priester zu Gesicht. Allein in Brasilien traten jährlich sechshunderttausend Menschen aus der Kirche aus, um zum Protestantismus zu konvertieren.
    Lucchesi wollte die Blutung zum Stillstand bringen, bevor es zu spät war. Er sehnte sich danach, seiner geliebten Kirche eine wichtigere Rolle im Leben ihrer Gläubigen zu verschaffen und seine Herde nicht nur dem Namen nach katholisch zu machen. Aber es gab noch etwas anderes, was ihn vordringlich beschäftigte: eine Frage, die ihm seit dem Augenblick, in dem das Konklave ihn zum Papst gewählt hatte, unaufhörlich durch den Kopf ging: Warum? Warum hatte der Heilige Geist ihn dazu erwählt, die Kirche zu führen? Welche besondere Gabe, welchen Splitter Wissen besaß er, um in diesem Augenblick der Geschichte der richtige Pontifex zu sein?
    Lucchesi glaubte die Antwort zu kennen. Er hatte einen gefährlichen Plan in Gang gesetzt, der die römisch-katholische Kirche in ihren Grundfesten erschüttern würde. Wäre sein
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