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Die Loge

Die Loge

Titel: Die Loge
Autoren: Daniel Silva
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würden nur in wirklich dringenden Fällen zu ihm kommen und ihn um seinen Rat bitten. Der Professor willigte ein, aber innerhalb eines Monats war seine Wohnung wieder zum Gemeinschaftsraum des Hauses Adalbertstraße 68 geworden. Insgeheim freute er sich darüber, daß sie wieder um ihn waren. Die rebellischen Kinder der Nr. 68 waren die einzigen Familienangehörigen, die Benjamin Stern noch hatte.
    Das Rattern einer vorbeifahrenden Straßenbahn riß ihn aus seiner Konzentration. Er hob eben noch rechtzeitig den Kopf, um sie unter dem Geäst eines Kastanienbaums verschwinden zu sehen, und warf dann einen Blick auf seine Armbanduhr. Elf Uhr dreißig. Seit fünf Uhr saß er nun am Schreibtisch. Er nahm die Brille ab und verbrachte lange Sekunden damit, sich die Augen zu reiben. Was hatte Orwell einmal über die Arbeit des Bücherschreibens gesagt? Ein grausamer, erschöpfender Kampf wie ein langer Anfall einer schmerzhaften Krankheit. Manchmal hatte Benjamin Stern das Gefühl, dieses Buch könnte seinen Tod bedeuten.
    Die rote Anzeige seines Anrufbeantworters blinkte. Um unerwünschte Unterbrechungen zu vermeiden, war sein Telefon gewohnheitsmäßig leise gestellt. Jetzt streckte er zögernd wie ein Sprengmeister, der überlegt, welchen Draht des Bombenzünders er durchtrennen soll, eine Hand aus und drückte den Knopf. Aus dem kleinen Lautsprecher drang ein Schwall Heavy-Metal-Musik, dem ein schriller Kriegsschrei folgte.
    »Ich habe eine gute Nachricht für Sie, Herr Professordoktor. Heute abend wird's auf der Welt einen dreckigen Juden weniger geben! Wiederseh'n, Herr Professordoktor.«
    Klick.
    Professor Stein löschte die Nachricht. Er war sie inzwischen gewöhnt. In letzter Zeit bekam er zwei pro Woche – manchmal auch mehr, je nachdem, ob er im Fernsehen aufgetreten war oder an irgendeiner Podiumsdiskussion teilgenommen hatte. Er kannte die Anrufer der Stimme nach und hatte jedem einen banalen, harmlos klingenden Spitznamen gegeben, um die Schockwirkung auf seine Nerven zu verringern. Dieser Kerl rief mindestens zweimal im Monat an. Professor Stern hatte ihm den Spitznamen »Wolfie« gegeben. Manchmal meldete er die Anrufe der Polizei. Meistens sparte er sich diese Mühe. Sie konnte ohnehin nichts dagegen tun.
    Er sperrte sein Manuskript und seine Notizen in den unter seinem Schreibtisch auf dem Fußboden festgeschraubten Safe. Dann zog er Schuhe, eine Wolljacke und seinen Mantel an und holte den Müllbeutel aus der Küche. In dem alten Haus gab es keinen Aufzug, was bedeutete, daß er zwei Treppen hinuntergehen mußte, um ins Erdgeschoß zu gelangen. Als er die Eingangshalle erreichte, stiegen ihm Chemiegerüche in die Nase. Im Erdgeschoß gab es einen kleinen, aber florierenden Kosmetiksalon. Der Professor haßte den Schönheitssalon. Herrschte dort Hochbetrieb, stieg der beißende Gestank von Nagellackentferner durchs Treppenhaus auf und drang in seine Wohnung. Außerdem machte der Publikumsverkehr das Gebäude weniger sicher, als er es sich gewünscht hätte. Da der Kosmetiksalon keinen Eingang von der Straße aus hatte, herrschte im Erdgeschoß ein ständiger Andrang schöner Schwabingerinnen, die zu Maniküren, Pediküren, Gesichtsmasken oder Epilationen kamen.
    Er wandte sich nach rechts und ging auf die Tür zu, die auf den winzigen Hof hinausführte. Auf der Schwelle zögerte er, um zu sehen, ob die Katzen in der Nähe waren. Gegen Mitternacht war er durch einen Streit um einen Leckerbissen aus den Mülltonnen geweckt worden. Heute vormittag waren keine Katzen da, nur zwei gelangweilt wirkende Kosmetikerinnen, die in blütenweißen Kitteln an der Wand lehnten und rauchten. Er trottete über die rußigen Pflastersteine und warf seinen Müllbeutel in die Sammeltonne.
    Als er in den Hausflur zurückkam, traf er dort Frau Ratzinger an, die das Linoleum mit einem abgenutzten Strohbesen mehr abstrafte als kehrte. »Guten Morgen, Herr Professordoktor«, knurrte die Alte; dann fügte sie anklagend hinzu: »Sie gehen wohl zum Morgenkaffee aus?«
    Professor Stern nickte und murmelte: »Jaja, Frau Ratzinger.« Sie funkelte zwei unordentliche Prospektstapel an, von denen einer für ein Open-Air-Konzert mit freiem Eintritt und der andere für eine ganzheitliche Massageklinik in der Schellingstraße warb. »Ich kann sie noch so oft bitten, dieses Zeug nicht hier abzulegen, sie tun's trotzdem. Das liegt an dem Schauspielschüler in 4B. Der macht jedem auf.«
    Der Professor zuckte mit den Schultern, als sei ihm das
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