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Die Loge

Die Loge

Titel: Die Loge
Autoren: Daniel Silva
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lateinischen Choral Veni creator spiritus sangen. Dort versammelten sie sich unter Michelangelos »Jüngstem Gericht« mit seiner zur Demut auffordernden Darstellung von gequälten Seelen, die zum Himmel aufsteigen, um sich dem Zorn Jesu zu stellen, und beteten, der Heilige Geist möge ihre Hand führen. Dann trat jeder Kardinal einzeln vor, legte eine Hand auf die heilige Schrift und schwor unverbrüchliches Schweigen. Sobald der Eid abgelegt war, befahl der Zeremonienmeister: »Extra omnes – alle hinaus« –, und das Konklave begann.
    Der Pole hatte sich seinerzeit nicht damit begnügt, diese wichtige Angelegenheit allein dem Heiligen Geist zu überlassen. Er hatte das Kardinalskollegium mit Prälaten seines Schlages durchsetzt, mit doktrinären Hardlinern, die entschlossen waren, kirchliche Disziplin und die Macht Roms über alles andere zu stellen. Ihr Kandidat war ein Italiener, durch und durch ein Geschöpf der römischen Kurie: Kardinalstaatssekretär Marco Brindisi.
    Die Gemäßigten hatten andere Vorstellungen. Sie plädierten für einen wahrhaften Oberhirten. Nach ihren Vorstellungen sollte der Nachfolger auf dem Stuhl Petri ein sanfter und frommer Mann sein; ein Mann, der bereit sein würde, seine Macht mit den Bischöfen zu teilen und den Einfluß der Kurie zurückzudrängen; ein Mann, der über Kontinente und Glaubenslinien hinweg auch in den Gebieten wirken würde, die unter Krieg und Armut litten. Für die Gemäßigten war nur ein Nichteuropäer akzeptabel. Sie glaubten, die Zeit sei reif für einen Papst aus der Dritten Welt.
    Die erste Abstimmung zeigte, daß das Konklave hoffnungslos zweigeteilt war, und beide Fraktionen machten sich auf die Suche nach einem Ausweg aus dieser Pattsituation. Beim letzten Wahlgang des ersten Tages tauchte plötzlich ein neuer Name auf: Pietro Lucchesi, der Patriarch von Venedig, erhielt fünf Stimmen. Als Lucchesi hörte, wie sein Name im heiligen Raum der Sixtinischen Kapelle fünfmal verlesen wurde, schloß er die Augen und erbleichte sichtlich. Während die Stimmzettel in den nero gelegt wurden, um verbrannt zu werden, beobachteten mehrere Kardinäle, daß Lucchesi betete.
    An diesem Abend schlug Pietro Lucchesi höflich die Einladung aus, mit einer Gruppe von Kardinälen zu speisen, und zog sich statt dessen in sein Zimmer im Wohnheim St. Martha zurück, um zu meditieren und zu beten. Er wußte, wie Konklaven abliefen, und konnte sehen, was ihm bevorstand. Wie Christus im Garten Gethsemane flehte er Gott an, diese Last von seinen Schultern zu nehmen und einen anderen zu erwählen.
    Am nächsten Vormittag jedoch wuchs die Unterstützung für Lucchesi an und näherte sich stetig der Zweidrittelmehrheit, die er brauchte, um zum Papst gewählt zu werden. Bei der letzten Abstimmung vor dem Mittagessen fehlten ihm nur noch zehn Stimmen. Da er zu beunruhigt war, um etwas essen zu können, betete er in seinem Zimmer, bevor er in die Sixtinische Kapelle und zu jenem Wahlgang zurückkehrte, von dem er wußte, daß er ihn zum Papst machen würde. Er verfolgte schweigend, wie jeder Kardinal vortrat, seinen zweimal gefalteten Stimmzettel in den goldenen Kelch warf, der als Wahlurne diente, und dabei einen feierlichen Eid ablegte: »Ich rufe Christus den Herrn, der mein Richter sein wird, zum Zeugen dafür an, daß ich meine Stimme dem gegeben habe, den ich vor Gott für denjenigen halte, der gewählt werden sollte.«
    Die Stimmzettel wurden gezählt und nochmals gezählt, bevor das Ergebnis verkündet wurde. Für Lucchesi waren hundertfünfzehn Stimmen abgegeben worden. Der Kardinaldekan trat feierlich auf Lucchesi zu und stellte ihm die Frage, die in über zwei Jahrtausenden schon Hunderten von neugewählten Päpsten gestellt worden war: »Nehmt Ihr Eure kanonische Wahl als Pontifex Maximus an?« Nach längerem Schweigen, das in der Kapelle viel Nervosität hervorrief, antwortete Pietro Lucchesi: »Meine Schultern sind nicht breit genug, um die Last zu tragen, die ihr mir auferlegt habt, aber mit Hilfe unseres Heilands Jesus Christus will ich es versuchen. Accepto .«
    »Welchen Namen habt Ihr Euch erwählt?«
    »Paul VII.«, erwiderte Lucchesi.
    Die Kardinäle traten nacheinander vor, um den neuen Oberhirten zu umarmen und ihn ihres Gehorsams und ihrer Loyalität zu versichern. Dann wurde Lucchesi in die als camera lacrimatoria , als Tränenkammer, bekannte scharlachrote Kammer geleitet, um sich einige Minuten lang auszuruhen, bevor die Gebrüder Gammarelli, die
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