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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin
Autoren: Lena Gorelik
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bist.»
    • «Ich muss nirgendwohin, ich habe schon zu viel gesehen.»
    • «Du musst nichts erfinden.»
    • «Aber sei vorsichtig.»
    • «Tränen helfen auch nicht.»
    • «Schmerz ist Schmerz, deshalb tut er weh.» (Wenn ich zum Beispiel als Kind hingefallen war.)
    Meine Mutter hatte sich in die Kantine zurückgezogen, um Beerdigungstelefonate (ihr Wortlaut) zu erledigen. Es tat mir nicht weh. Ich versuchte, das Bild meiner Großmutter zu verbannen, mit dem ich mich seit gestern herumschlug, das ich gerne weiterschieben wollte wie ein Dia bei einer Vorführung. Ich hielte mit einer Top Five List von Bildern meiner Großmutter dagegen, auch wenn ich Top-Listen für Amateurkram hielt, Listen gehörten nicht abgeschlossen, sondern in Ewigkeit weitergeführt.
    Meine Großmutter, jeden Tag, wenn ich aus der Schule zum Mittagessen zu ihr kam. Montags und mittwochs komme ich um kurz nach eins, dienstags nur für eine Stunde, weil ich nachmittags Unterricht habe. Donnerstags komme ich später, weil sich da die Schülerzeitung trifft, freitags mit einem anderen Bus, weil direkt vom Schwimmunterricht (ich muss mir die Haare gut föhnen, damit sie nicht schimpft). Großmutter trägt ihre rote Schürze mit dem aufgedrucken schwarzen Stier, die habe ich ihr aus unserem Spanienurlaub mitgebracht. Großmutter besitzt viele Schürzen, weil die Menschen, die sie kennt, obwohl es nicht viele sind, neben uns ihre Nachbarin, die türkische Frau, mit der sie manchmal spazieren geht, und Ludmila, ihr immer Kuchenformen und Schürzen zum Geburtstag schenken, weil ihnen sonst nichts einfällt. Ich gebe ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange, und jeden Freitag fährt sie mir durch die Haare, um zu überprüfen, ob sie auch trocken sind. Sie nickt anerkennend, wenn zufrieden. Wie war die Schule, was macht ihr in Mathematik, ach, das ist ja spannend, und ich: Was für Kuchen hast du heute gebacken? Sie macht ein Geheimnis daraus, erst muss ich zu Mittag essen, früher versuchte ich, es am Geruch zu erraten. Apfel? Birne? Blaubeeren? Etwas mit Schokolade? Mittags gibt es immer erst eine Suppe, dann etwas mit Fleisch, anschließend Kompott (Rhabarber, Apfel, Pflaumen oder Birne). Kuchen bekomme ich erst nach den Hausaufgaben. Dass sie jeden Tag auf mich in ihrer roten Schürze wartet, drei Gänge kocht und Kuchen backt, obwohl von gestern noch Reste im Kühlschrank sind, die sie abends alleine aufessen oder in zwei Tagen unserer Katze Natascha mitbringen wird, empfinde ich als beruhigend, nicht etwa erdrückend, auch mit sechzehn noch. An den Wochenenden kauft Großmutter ein und geht spazieren, sonst tut sie nichts, bis Montag ist.
    Jedes Jahr: meine Großmutter in «Schwanensee». Das Bolshoi-Ballett mit einem Gastspiel in München, Frank besorgte die Karten, und Großmutter umrahmte den Tag auf dem Küchenkalender rot, bei uns wie bei sich, obwohl in ihrem kaum Termine standen, nur die unsrigen. «Urlaub» trug sie ein, wenn meine Eltern und ich in Urlaub fuhren. Meine Mathematikklausuren auch. Ins Ballett gingen wir alle zusammen, ich mit den Jahren unwilliger. «Bis sich Odette endlich in die Fluten stürzt, vergehen Jahre, ich habe Besseres zu tun», nörgelte ich, achtete aber darauf, dass nur Frank es hören konnte. Erst später, als ich studierte und eigens dafür anreiste, wieder gern. Meiner Großmutter zuliebe band Frank sich eine Krawatte um, meiner Großmutter zuliebe ließ ich mir von ihr eine Schleife ins Haar binden und zwängte mich in ein Kleid. Großmutter ging einmal im Jahr zum Friseur, sonst schnitt ihr meine Mutter in unserem engen Badezimmer die Haare. Beim Friseur ließ sie sich die Haare föhnen und legen und fragte uns: «Sind sie gut gelegt?» Fürs Ballett zog sie ihre gelbe Bluse an und hängte sich eine Perlenkette um, die ich einmal, versicherte sie mir, erben würde. «Wie sie tanzen, wie sie tanzen!», wiederholte Großmutter in den Pausen, kopfschüttelnd, es hätte auch Tadel sein können. Frank spendierte Prosecco, als ich noch kleiner war, ließ er mich von seinem nippen, und Großmutter seufzte: «Ach, wie sie tanzen.»
    Morgens, nachdem ich bei meiner Großmutter übernachtet hatte, zuerst, weil meine Eltern zu einer Konferenz gefahren oder abends ins Theater gegangen waren, später, weil sie mir beim Mathelernen vor einer Klausur half. Ich schlief auf der ausgezogenen Couch im Wohnzimmer, in mit Bärchen bedruckter Bettwäsche, die sie für mich bereithielt, auch als ich schon Abitur
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