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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin
Autoren: Lena Gorelik
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Ärzte, mit denen wir über das HLHS sprechen», die ich noch im Wartezimmer des Kinderherzspezialisten begann, zu dem er mich geschickt hatte. Die Liste war inzwischen anderthalb Seiten lang, später teilte ich sie auf, und Dr. Schlimmer schaffte es auf die «Liste der angenehmen Ärzte».
    «Hier stimmt etwas überhaupt nicht!» Obwohl ich gleich nachfragte: «Wieso, was denn nicht?», war ich noch nicht besorgt, sondern fühlte nur den Druck, es sein zu müssen, als Mutter und so. Wann die Besorgnis und wann die Angst, wann das Gefühl, gefangen zu sein (in der Diagnose, in diesem Leben mit dieser Angst), kam, weiß ich nicht mehr. War es, als Dr. Schlimmer mir die Sache mit dem halben Herzen erklärte und ich das erste Mal «Mitralklappenstenose» hörte und das Wort sofort im Kopf buchstabierte, war es am Abend desselben Tages, als Flox und ich « HLHS » und «Baby» googelten und lasen und uns bald stritten und daraufhin an beiden Computern weitermachten, jeder für sich, weil ich die Geschichten toter Kinder las und Flox lieber den Unterschied zwischen HLHS Typ I und Typ II verstehen wollte und die Koronararterie auf einer Herzabbildung suchte? War es, als der nächste oder der übernächste Kinderarzt oder Herzchirurg von Entscheidungen sprach, konkret der, ob man «so ein Kind» nicht manchmal lieber gehen lassen sollte, und ich nachhakte: Wie oft ist manchmal? War es, als mich jemand, den ich nicht näher kannte, fragte: «Glauben Sie an Gott?» (das erste von vielen Malen)? War es, als ich Frank weinen sah, zum ersten Mal überhaupt, weil er sich natürlich sofort in der medizinischen Bibliothek vergraben hatte und danach zu uns kam und mich schweigend, aber weinend umarmte? War es, als Anna endlich auf der Welt war und nicht schrie und alle kurz still waren, die Kinderärzte, Herzchirurgen, Gynäkologen und Hebammen, Flox und ich, und wir alle nur dem Nichtschreien lauschten, das einer durchbrach mit: «Wollen Sie, dass wir sie beatmen?» Spätestens war es, als Anna ein paar Sekunden später aufschrie, als wollte sie die Antwort selber geben, «Ich mach ja», und Flox erleichtert auflachte. Als Anna schrie und Flox auflachte, klatschten alle im Zimmer, die Entspannung spürte man förmlich. Alle atmeten auf, der Herzchirurg lächelte so, dass ich es ich trotz Mundschutz erkannte, die Hebamme streichelte mir über den Kopf durch die schweißnassen Haare, aber ich spürte Angst und sonst nichts. Nur die Angst, das Schreien könnte jeden Moment aufhören, sie würden wieder fragen: «Wollen Sie, dass wir sie beatmen?», und von mir eine Antwort auf eine solche Frage erwarten.
    Später lernte ich, Fragen dieser Art sofort und nachdrücklich zu beantworten, weil ich sah, dass es ohne Anna nicht mehr gehen würde. «Gehen lassen» ließ ich weder als Möglichkeit noch als Ausdruck zu, und wenn es mal schlechter aussah und jemand nahm den Ausdruck wieder in den Mund, schrie ich, wie Anna damals nach ihrer Geburt geschrien hatte. Flox lernte, mich schreien zu lassen; wir fanden heraus, dass Pommes die einzige genießbare Speise in der Klinikkantine waren und wo der nächste Obststand beim Klinikum war; wir lernten, uns an kleinen Schritten zu freuen, dass Kinder besser kämpfen als wir, zumindest als ich. Wir eigneten uns medizinisches Vokabular an (ach, hätte ich nur in der Schule Latein genommen!) und übten für eventuelle, nie eingetretene Notfälle, wie man in der Fahrschule übt, was im Falle eines Unfalls zu tun ist. Flox lernte später, während die Prognosen besser wurden und niemand mehr von «gehen lassen» sprach, während Anna sich entwickelte wie andere Kinder, krabbeln, laufen, sprechen, trotzen, ihre seit der OP rosafarbene Hautfarbe, wie bei jedem anderen Kind in der Kita, als gegeben hinzunehmen, während ich ihren Körper bei jedem Wickeln nach einem Blaustich absuchte, jeden ihrer Huster als Bedrohung wahrnahm. Mit der Zeit lernte ich auch, diese Ängste für mich zu behalten und Anna nicht zu beobachten, wenn Flox in der Nähe war, weil ich wollte, dass er es genoss, und sie es genoss, dass sie sich beide keine Sorgen machten und den Husten als Erkältung nahmen und beim Klettern auf dem Spielplatz die Dezibelstärke ihres Schnaufens nicht einzuschätzen versuchten.
    Es würde die dritte und im besten Fall letzte OP werden. Die Chancen, nach drei Norwood- OP s mit diesem Herzfehler noch eine Weile (wie lang war eine Weile? Das wussten die Studien nicht) und einigermaßen uneingeschränkt
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