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Schwarz

Schwarz

Titel: Schwarz
Autoren: Aufbau
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    Auch dieser Tag würde ein Alptraum werden, das wusste der Junge. Doch er konnte nicht ahnen, dass die Auswirkungen dieses schrecklichen Vormittags Jahrzehnte später ganze Staaten in Atem halten würden. Als er aus der Lehmhütte hinausschaute und sah, wie schön der Morgen war, kam ihm das Leben im größten Flüchtlingslager der Welt noch hoffnungsloser vor als sonst. Die hinter dem Horizont wie ein Feuer lodernde Sonne färbte den Himmel strahlend rot, und davor hob sich am Waldrand die Silhouette der Baobab-Bäume ab. Ihm fiel ein, wie er und sein kleiner Bruder einmal im Schuppen mit Vaters Taschenlampe Eier durchleuchtet hatten. Alles ließ ihn heute an ihr Zuhause denken und an die Zeiten, als das Leben noch lebenswert erschien.
    Der Sonnenaufgang sah genauso eindrucksvoll aus wie daheim im Sudan, auf den Weiden von Doka. Doch er war nicht daheim, sondern in der Hölle auf Erden, in Itang, einem Lager für dreihunderttausend Flüchtlinge, in dem Hunger, Angst und Tod jeden Augenblick beherrschten. Hier musste man vieles ertragen: die Leichen der Menschen, die durch Krankheiten dahingerafft wurden, ständig weinende, vor Hunger aufgedunsene Kleinkinder, die stetige Bedrohung durch gewalttätige Soldaten der SPLA und den ewigen Kampf ums Essen. Die Zeit schien stehengeblieben zu sein, und dieser hoffnungslose Zustand hielt an. Es ging immer so weiter und weiter …
    Der Lärm der Vögel war nun trotz des Geschreis der Kinder deutlich zu hören. Besorgt fragte sich der Junge, ob etwa schon die ersten Lagerbewohner im nahe gelegenen Wald Brennholz sammelten? Er schaute kurz zu seiner Mutter und Schwester hin und trieb seinen kleinen Bruder zur Eile an. Begriffen die immer noch nicht, dass es ums nackte Überleben ging?
    »Hilf ihnen, wir müssten schon unterwegs sein«, sagte er und nickte seinem Bruder aufmunternd zu. Ibrahim brauchte seine Unterstützung. Der Tod des Vaters war für alle in der Familie ein gewaltiger Schock gewesen, aber den zehnjährigen Ibrahim hatte er für einige Zeit völlig aus der Bahn geworfen.
    Letztes Jahr war alles noch in Ordnung gewesen: Sie bewirtschafteten ihren kleinen Bauernhof zu Hause in Doka. Die Mutter und die Schwester holten Wasser, sammelten Brennholz, bauten Durra und Baumwolle an und versorgten die Hühner und Ziegen. Der Vater, er und Ibrahim kümmerten sich um die Rinder und Schafe. Abgesehen von den trockenen Sommern war Doka ein wahres Paradies, grün und fruchtbar. Manchmal fehlte es ihnen an gar nichts. In der Mittagszeit, wenn es am heißesten war, spielten er, Vater und Ibrahim oft Domino, und mitunter ließ Vater ihn sogar die Wasserpfeife probieren.
    Doch dann wurde ihre Welt innerhalb weniger Monate zerstört: Im letzten Herbst war der Regen ganz ausgeblieben und die Dürre immer schlimmer geworden. Sie tötete die Rinder und vernichtete ihre Ernte. Die oberste Schicht des fruchtbaren Bodens verwandelte sich in leblose Asche, alle Flüsse und Ströme mit Ausnahme des Nil verkümmerten, und die Oasen verdorrten. Und schließlich erfassten die Kämpfe zwischen der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee SPLA und der Regierung auch ihre Heimatregion. Mit verhängnisvollen Folgen.
    Der Junge saß auf dem Erdboden und zog den Saum seiner Galabija über die Beine. In der Hütte aus getrocknetem Schlamm war es erbärmlich kalt, und von einem Frühstück brauchte er nicht einmal zu träumen. Die UN-Lebensmitteltransporte waren in der letzten Zeit ins Stocken geraten; nach Gerüchten, die im Lager die Runde machten, wollten die reichen Länder ihnen, den Flüchtlingen aus dem Sudan, nicht mehr helfen, weil sich die neue Regierung des Sudan im Krieg am Persischen Golf auf die Seite von Saddam Hussein gestellt hatte. Das Wort irgendeines Ausländers, der Tausende Kilometer entfernt lebte, nahm ihnen, die nichts mit Politik oder dem Persischen Golf zu tun hatten, was sie dringend zum Leben brauchten.
    Er verzog das Gesicht, als sein Magen so stark knurrte, dass es weh tat. Der Hunger quälte ihn andauernd, in den letzten Wochen hatten sie nur einmal am Tag gegessen und immer dasselbe – Durra-Brei. Allein der Gedanke an Fleisch ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Rindfleisch, Lamm oder Huhn hatte er das letzte Mal vor einer Ewigkeit gegessen, zu Hause in Doka. Stattdessen kaute er nun, immer wenn er sie kriegen konnte, Würmer, Larven und Samenkörner aus dem Dung von Eseln. Hier musste man alles essen, was einen nicht umbrachte, alles, was auch nur ein klein
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