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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin
Autoren: Lena Gorelik
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mich nicht. Und jetzt sitze ich hier. Die letzten Stunden.» Und sie klopfte auf den Holzstuhl neben sich. «Besuchszeit. Wozu haben die sich das ausgedacht, die Besuchszeit? Es kann doch plötzlich zu spät zum Besuchen sein.»
    Ich setzte mich neben sie, der Stuhl war überraschend kalt, ich schauderte kurz. «Das ist, damit die Patienten sich ausruhen können.»
    «Ja, ich weiß», und dann schwiegen wir, ein neues, recht absurdes Erlebnis mit meiner Mutter. Das Schweigen, das neongelbe Licht und die Uhrzeit unterstrichen die Absurdität. Ich stellte fest, dass es nun schon das zweite Mal in dieser Woche war, dass meine Mutter und ich uns nachts trafen, an unschönen Orten beide Male.
     
    Ich hatte nicht schlafen können. Flox hatte Anna ins Bett gebracht und war wie meistens mit ihr eingeschlafen, ich hatte aufgeräumt, die letzten Sachen gepackt, dann doch noch mal alles aus der Tasche geholt, auf der Couch ausgebreitet und kontrolliert und wieder zurückgestopft, weniger ordentlich als vorher. Packlisten schrieb ich prinzipiell nie, Packlisten waren für jedermann. Ich notierte «Bär» und «Feuerwehrflasche» auf ein Post-it und drückte es auf die Tasche, beides dürften wir in der Früh nicht vergessen. Ich hatte Zähne geputzt und mich zu den beiden gelegt, Anna schlief quer im Bett, ihre Füße in den bunten Ringelsocken (sie fror immer so schnell: das halbe Herz), direkt vor Flox’ Nase. Ich schob sie sachte anders hin, sodass ich sie an mich drücken, sie festhalten konnte, so festhalten, dass morgen um sechs Uhr kein Wecker klingeln, dass wir nicht ins Auto einsteigen, dass niemand sie auf einer viel zu großen Liege in Richtung OP -Saal schieben würde, dass kein Anästhesist, keine Ärzte sie anfassen würden, dass sie das Wort OP niemals hörte, zumindest nicht, bis sie alt genug für ein Medizinstudium oder Grey’s Anatomy wäre. Sie war jetzt zweieinhalb und konnte «Hypoplastisches Linksherz-Syndrom» sagen, ohne Buchstaben zu verwechseln oder zu stottern, und sie gab ihrem Bären regelmäßig Thrombosespritzen. Ich wollte sie festhalten, bis alles vorbei oder anders wäre, was natürlich nicht möglich war, ich scheiterte daran seit drei Jahren. Ich wusste, ich würde nicht schlafen können, und stand wieder auf. «Anna strampelt, als würde sie sich für immer von mir losmachen», trug ich in die Liste der «Dinge, die in einem Film/Buch symbolische Bedeutung hätten» ein.
    Ärzte hatte ich noch nie gemocht, schon als Kind nicht. Ich hatte auch selbst nie meine Puppen verarztet und später deshalb kein Latein gelernt, weil ich es nur mit Medizin assoziierte. Ich ging weder regelmäßig zum Zahnarzt noch zum Gynäkologen, und Impfungen für meine Fernreisen schob ich auf den letztmöglichen Tag hinaus. Es war der 23 . Oktober vor drei Jahren, das Datum klebte an mir, und seither dachte ich an jedem 23 . eines jeden Monats daran: Vor zwei Monaten, vor einem halben Jahr, vor vierzehn Monaten, vor achtzehn … Ich hatte mich unwillig zu einer dieser Standardschwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen gequält, froh darüber, dass Flox nicht mitging, ich saß auf diesem peinlichen Stuhl und versuchte, die Peinlichkeit mit einem Gespräch zu überbrücken. Ich stellte jene Fragen über den Embryo (oder war es schon ein Fötus oder ein Kind oder war das alles dasselbe?) in meinem Bauch, von denen ich annahm, dass Schwangere sie stellten. Was macht es da drin? Kann es die Augen öffnen? Ich redete dann noch ein bisschen übers Wetter und achtete darauf, keine Pause zu machen, weil Dr. Schlimmer diesmal besonders lange mit seinem Ultraschallgerät auf meinem Bauch auf und ab fuhr und auf meine Fragen recht einsilbig reagierte. (Und selbstverständlich trug ich Dr. Schlimmer in meine Listen ein.) Dr. Schlimmer beantwortete meine Fragen plötzlich gar nicht mehr, weshalb ich auf den frühen Winter zu sprechen kam und die Notwendigkeit, mir eine Schwangerschaftsjacke zu kaufen, aber da unterbrach er mich, weil ihn meine Jackenproblematik offensichtlich nicht so bekümmerte wie das, was er auf dem Ultraschall sah, und sprach diesen einen Satz aus, der bis heute alles beschreibt: «Hier stimmt etwas überhaupt nicht.»
    Der Arzt hieß tatsächlich Dr. Schlimmer. Ich trug ihn ein, in die «Liste der Dinge, die in einem Film/Buch symbolische Bedeutung hätten», in die «Liste filmreifer Szenen aus meinem Leben», in die «Liste toller Nachnamen», und er war dann der erste Name auf meiner «Liste der
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