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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin
Autoren: Lena Gorelik
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zu leben, standen gut. Flox und unsere Eltern, die Ärzte und Freunde und auch sonst alle wiederholten diese Einschätzung wie ein Mantra, sie hielten sich daran fest. Einmal die Stunde hörte ich diesen Satz, Flox oder die anderen sagten ihn laut und deutlich, als wollten sie die andere Stimme im Kopf übertönen. Die andere Stimme sagte in meinem Kopf in einer Dauerschleife und sorgte dafür, dass für positive Prognosen kein Platz mehr blieb: Ein Herzchirurg würde mein Kind aufschneiden, die untere Hohlvene des Herzens mit der Lungenschlagader verbinden, aber ein kleines Loch in dem entstehenden Tunnel lassen, damit die Lunge des Kindes nicht zusammenbrach, wenn das Kind später schrie, und ob es seinem Herzen, dem ja die linke Hälfte fehlte, da nicht doch zu viel würde, wusste niemand.
     
    Ich konnte nicht schlafen, und nachdem ich lustlos und unkonzentriert an Listen gearbeitet hatte, hatte ich mich ins Auto gesetzt, war in die Klinik gefahren und wollte nach meiner Großmutter schauen, das würde sie nicht merken, aber mich ablenken, doch an Besuchszeiten hatte ich nicht gedacht, weil bei meinen sonstigen Klinikbesuchen in der Kinderherzabteilung keine Besuchszeiten galten, höchstens sagte die Schwester oder der Arzt: «Sie dürfen zu Ihrem Kind, aber nur für fünf Minuten.» Erst in einem der seltsam leeren und ungewohnt stillen langen Flure fielen mir die Besuchszeiten wieder ein, aber ich dachte, vielleicht könnte ich unauffällig … oder eine nette Schwester würde … Nur kurz ein Blick, immerhin hatten wir meine Großmutter für tot gehalten, und immerhin dachten die Ärzte, sie sei morgen oder spätestens übermorgen dann tot. Genau so würde ich es sagen, dachte ich, sollte ich einer netten Schwester begegnen. Dann fiel mir auf, dass «tot» in der geriatrischen Abteilung wahrscheinlich mehr Erlösung war als eine drohende Gefahr.
    Im Gang gegenüber dem Zimmer, in dem meine Großmutter vor sich hin fieberte, waren vier Klappstühle in die Wand montiert, auf einem saß meine Mutter, die mich überrascht, aber nicht besorgt betrachtete und nichts sagte, so wie auch ich nichts sagte und nur stehen blieb, bis sie dann doch schwach und etwas distanziert lächelte, als sei sie nicht meine Mutter. Vielleicht war sie gerade mehr Tochter denn Mutter.
    Sie fragte: «Konntest du nicht schlafen?»
    Wir saßen nebeneinander und starrten beide zur selben Tür. Wir schwiegen eine ganze Weile. Ich sah irgendwann auf die Uhr, schon kurz nach eins, wir hatten länger geschwiegen als jemals zuvor. Sie stellte einmal ihre Handtasche auf den Schoß, kramte darin und hielt mir eine Packung Hustenbonbons hin. Ich nahm eins, weil mir «Zucker» und «wach bleiben» durch den Kopf ging, obwohl ich gleichzeitig auf der Packung «zuckerfrei» las. Es war ein sehr schönes Schweigen, Krankenschwestern kamen keine vorbei.
    Letzteres fiel mir erst nach einer Stunde auf. Niemand war an uns vorbeigegangen, niemand hatte uns gesehen, und außer kurzem Husten und Stöhnen aus den Zimmern hatten wir nichts gehört.
    «Warum gehen wir eigentlich nicht einfach rein? Es ist doch keiner da!», sagte ich.
    «Vorhin war jemand da. Als die Besuchszeit vorbei war, haben sie gesagt, ich soll gehen. Ich hatte gebeten, dass ich bleiben darf. Bei meiner Mutter bleiben, aber sie haben mich aus dem Zimmer geschmissen. Sie haben nicht erlaubt, dass ich bei meiner Mutter bleibe, ich hätte auf dem Stuhl geschlafen. Es ist vielleicht das letzte Mal … Und das in Deutschland!» Ich dachte an meine Liste, sie schüttelte den Kopf, und ihre Brille verrutschte. Sie rückte sie nicht zurecht. Eine Bitternis war in ihrer Stimme, die ich so noch nie gehört hatte, sie passte nicht zu ihr und störte mich.
    «Aber die Schwestern machen ja nicht die Regeln. Die haben doch ihre Anweisungen.»
    «Ja, aber Regeln. Man kann doch eine Ausnahme machen. Das ist meine Mutter, und wie lange sie noch leben wird … Man muss sich doch von den Menschen verabschieden, die man liebt.» Sie seufzte auf, bevor sie weitersprach, und ich war mir nicht sicher, ob das die ihr eigene Dramatik war oder ob sie tatsächlich in Gedanken verloren war. «Ich habe mich nicht immer verabschiedet. Das war falsch. So was weiß man nur im Nachhinein, Sofotschka.»
    So hatte mich Großmutter genannt, sonst niemand. Frank fand die russischen Wortverniedlichungen, die immer Verlängerungen waren, amüsant, auch im Deutschen sagte meine Mutter «Stiefelchen» zu Winterstiefeln, jedes
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