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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin
Autoren: Lena Gorelik
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konnte, sie erwähnte es nicht. Die eine Frage, die ich unbedingt stellen wollte, stellte ich nicht.
    Meine Mutter hörte abrupt zu sprechen auf, sagte, sie habe Durst, nahm ihre Tasche und ging den Gang hinunter zum Getränkeautomaten. Sie fragte nicht, ob ich etwas wolle, ich wunderte mich, weil sie sonst nicht nur ein Buch, sondern auch immer eine Wasserflasche dabeihatte. Ich wartete auf die Müdigkeit, sie kam nicht.
    Während sie weg war, traten zwei Stationsschwestern aus dem Krankenschwesternzimmer, wunderten sich über mich, sagten nichts, das frühmorgendliche Leben des Krankenhauses begann, die eine Schwester schob einen Wagen voller geschmacksloser Frühstücksbrötchen und kleine Marmeladenverpackungen vorbei. Als meine Mutter mit einer Wasserflasche zurückkehrte, sprachen wir nur noch kurz über die Uhrzeit, und ich machte mich auf den Weg zum Parkplatz. Ich versprach ihr, noch einen Automatenespresso zu trinken und sehr vorsichtig zu fahren, versprach es ruhig und gar nicht genervt.
    Es war genau fünf Uhr fünfundvierzig, als ich das Auto anließ, die Nachrichten begannen gerade. Die politische Zukunft von irgendwem war entschieden, jemand anders war zu Gesprächen bereit, noch ein anderer kritisierte. Um sechs Uhr einundzwanzig ging meine Großmutter von uns, da war ich schon zu Hause und zog Anna an, um sieben sollten wir im Krankenhaus sein.
    Warum mir noch nie jemand von Grischa erzählt hatte? Ich hatte diese eine Frage nicht gestellt und meinte die Antwort dennoch zu kennen.

[zur Inhaltsübersicht]
    Zweiundzwanzigstes Kapitel
    Für die «Liste der Momente, die sich bedeutungsvoller anfühlen sollten, als sie es tun»:
    • zu erfahren, dass die Oma gestorben ist
    • das eigene Kind bis zum OP -Saal schieben
    • wenn sich die wichtigsten Menschen (Eltern, Großeltern, Schwiegereltern, Schwägerin, Freunde) umarmen wie eine Football-Mannschaft vor einem Spiel in einem amerikanischen Film
    • wenn das Kind vor einer lebensbedrohlichen OP «Bis später!» sagt und gut gelaunt winkt und kichert, weil es einen Beruhigungssaft bekommen hat
    • wenn die Männer in der Familie (Flox, sein Vater, Frank) Tränen vergießen
    Für die Liste «Ich als Feigling»:
    • als ich mich nicht traute, zu Großmutter zu gehen
    • als ich mich nicht traute, Flox’ Mutter zu sagen, dass wir im letzten Moment gerne mit Anna alleine wären
    • als ich mich nicht traute, den Arzt zu fragen, wie häufig er schon solche Operationen durchgeführt hat und wieso Dr. Schrammer nicht da ist
    • als ich Flox vorschickte, um Anna bis in den OP zu begleiten
    • als ich Kaffee holen ging, damit ich nicht sehen musste, wie er wiederkam
    Für die Liste «Fragwürdige Erziehungsmaßnahmen»
    • Anna fragt, ob wir morgen oder übermorgen wieder in den Zoo gehen, und ich sage: «Morgen sicher nicht, aber übermorgen vielleicht», obwohl klar ist, dass sie in den nächsten Tagen noch nicht mal laufen wird.
    Die Liste «Als Frank weinte» konnte ich verdoppeln, indem ich nur einen Satz schrieb: «als Anna für die 3 . OP in den Saal geschoben wurde».
    Flox’ Vater versorgte uns mit Essen, niemand aß. Erst hatte er Kaffee und Tee geholt und musste dafür mehrmals laufen, weil er das alles nicht auf einmal transportieren konnte. Daraufhin hatte er vom Bäcker Brezeln und Croissants mitgebracht und war sofort wieder verschwunden, um kalte Getränke zu besorgen, Wasser und Schorle und Cola, die auch niemand trank. Seine Frau warf, als er weg war, höflichkeitshalber ein paar Sachen in den Müll, er freute sich: «Habt ihr doch was gegessen? Wusste ich’s doch!» Nun befand er sich auf dem Weg zur Apotheke, Hustenbonbons für Frank, der zweimal gehustet hatte. Flox war mit seiner Mutter in der Kapelle, war ihr dorthin gefolgt, als ich dabei war, seinem Vater beim Kaffeetragen zu helfen, obwohl der meine Hilfe nicht wollte, er brauchte selbst so viel wie möglich zu tun. Ich brauchte nur einen kurzfristigen Grund, Flox nicht aus dem OP -Saal kommen zu sehen, wo sie Anna eine Narkosemaske aufgesetzt und in dem sie die Temperatur auf genau zwanzig Grad Celsius gestellt hatten, weil ich Flox’ Gesicht noch nicht vergessen hatte, mit dem er beim letzten Mal aus dem OP -Saal kam: als bräuchte er die Schwester, die ihm gefolgt war, diese fremde Krankenschwester im grünen Kittel, damit er nicht zusammensackte. Ich war ein Feigling gewesen, damals wie heute, ich hatte die Tränen zurückgehalten, hatte gelächelt, ich hatte «Der
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