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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin
Autoren: Lena Gorelik
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Papa geht mit dir mit» herausgepresst, als ginge es wie an manchen Abenden nur darum, sie ins Bett zu bringen. Flox’ neuentdeckte Leidenschaft zum Gebet fühlte sich wie Rache für meinen Gang zum Kaffeeautomaten an. Bei einem der seltenen Male, die er meine Listen angesprochen hatte, schlug er vor, seltsame religiöse Rituale zu listen, zahlreiche Vorschläge hatte er gleich mitpräsentiert. Ihm zuliebe hatte ich sie aufgeschrieben, aber später nicht weitergemacht. Die Listen waren meine.
    Mich ließen sie in Ruhe. Ich saß abseits und hatte alle im Blick, wie Kinder, auf die ich aufpassen sollte, die ich ihren Spielen überließ und nur darauf achtete, dass nichts Schlimmes passiert. Ich schrieb.
    Für die Liste der seltsamen religiösen Rituale:
    • dass man in einen bestimmten Raum gehen muss, um mit Gott zu sprechen, wo er doch angeblich überall ist
    • dass Menschen davon ausgehen, dass Gott an einem Ort, an dem viele sterben, sich ausgerechnet in der Kapelle aufhält
    Für die Liste leicht skurriler Charakterzüge in meinem Umfeld:
    • Flox’ Schwester klopft oft mit den Fingern den Takt eines Liedes (immer ein anderes, Ohrwurm?) auf dem Tisch, einer Stuhllehne, sogar auf der Wand, ohne es zu merken (wahrscheinlich)
    • Katharina zieht ihre Armbanduhr aus und spielt damit
    • Frank «verschwindet» in eine andere Welt, wenn er nervös ist
    • Flox’ Vater muss immer etwas zu tun haben, macht Besorgungen, wenn er nervös wird
    Meine Großmutter war um sechs Uhr einundzwanzig gestorben. Meine Mutter war bei ihr gewesen, und später, nachdem Großmutter in die Leichenhalle abtransportiert worden war, die ich mir wie im «Tatort» vorstellte, war sie hierhergekommen. Sie trug dasselbe wie in der Nacht, als wir beieinandersaßen und sie mir oder sich selbst von Onkel Grischa erzählte, nach Hause hatte sie es also nicht mehr geschafft. Ich hörte, wie sie Flox’ Vater erzählte, meine Großmutter sei «friedlich gegangen», sie habe einfach, ganz ruhig, aufgehört zu atmen. Mir sagte sie nichts über den Tod meiner Großmutter, mit mir sprach sie, fiel mir auf, heute so gut wie gar nicht. (Alle hatten sie Angst vor mir, Flox würde sagen, um mich, aber was konnte ich darauf halten? Er betete neuerdings.) Meine Mutter erzählte, Flox’ Schwester, nicht mir, obwohl ich hinter ihr stand, sie habe Großmutters Hand gestreichelt, seit sie sie um sechs Uhr früh zu ihr gelassen hatten, bis zum letzten Moment. Sie habe mit ihr geredet, weil sie in einer Fernsehsendung gehört hatte, dass Menschen selbst im Koma die Angehörigen irgendwie hören können, und sie wisse, meine Großmutter habe sie gehört.
    Ich war nicht bei ihr gewesen. Als ich zum letzten Mal bei ihr war, habe ich sie nicht anfassen wollen. Ich hatte nichts mehr zu ihr gesagt.
    Meine Mutter sagte zu Flox’ Schwester, sie sei froh, dass wir uns alle von Großmutter hatten verabschieden können, auch ich.
    Meine Mutter, so stellte ich mir vor, hatte die runzlige, trotz Wärmedecken eiskalte Hand meiner Großmutter in der einen Hand gehalten und mit der anderen nervös, zu hektisch, wie sie auch sonst in ihren Bewegungen hektisch und dadurch immer unsicher wirkt, gestreichelt. Meine Großmutter hatte ihre Hände früher gepflegt, sich täglich nach der Mittagsruhe mit einer Nagelfeile in ihren Sessel gesetzt, meine nichtgefeilten, nichtlackierten, kurzgeschnittenen Fingernägel hatte sie «Jungenhände» genannt, es hatte wie ein Schimpfwort geklungen.
    «Jungenhände hast du! Bist du ein Junge?», schrieb ich, da mir der Satz wieder einfiel, auf die Liste «Typische Großmutter-Sätze».
    Typische Großmutter-Sätze
    • «Einen Kopf hast du ja schon.»
    • «Nu, nu.»
    • «Butter schadet nicht, Butter macht glücklich.»
    • «Auch dafür schon mal danke.»
    • «Weißbär».
    • «Bonbönchen.»
    • «Kuchen ist Kuchen. Kuchen kommt nicht vom Bäcker.»
    • «Lass doch die Politik die Politik sein. Du bist nicht die Politik.»
    • «Zwei Stück haben noch keinem geschadet.» (Über Kuchen, jeden Tag.)
    • «Zahlen haben eine Schönheit.»
    • «Man gewöhnt sich an alles, auch an die Angst.»
    • «Ach, Mädchen, mein Mädchen. Wenn du wüsstest …»
    • «Fragen bringen dich nicht weiter. Niemanden bringen sie weiter.»
    • «Bleib, wo du willst.»
    • «Nimm einen Regenschirm mit.»
    • «Ruf an, wenn du zu Hause bist!»
    • «Wie sie tanzen, wie sie tanzen!»
    • «Als du noch zu Fuß unter dem Tisch gelaufen
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