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Die linke Hand Gottes

Die linke Hand Gottes

Titel: Die linke Hand Gottes
Autoren: Paul Hoffman
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Lastkarre wartete darauf abgeholt zu werden. Deshalb hatte Smith, einer der niederen Brüder des Ordens, der für seine Faulheit bekannt war, die Tür mit einem Keil arretiert, statt sie, wie es eigentlich Vorschrift gewesen wäre, wieder abzuschließen.
    Üblicherweise hätten sie so viel Kohle gestohlen, wie sie hätten tragen können, doch ihre Taschen waren schon mit Essen vollgestopft und außerdem waren sie zu verängstigt.
    »Wo sind wir hier?«, fragte Henri.
    »Keine Ahnung«, erwiderte Cale. Er ging ein Stück den Wandelgang hinunter, damit sich seine Augen an Nebel und Dunkelheit gewöhnten und er irgendeinen Anhaltspunkt fände. Die Freude, wieder im Freien zu sein, ließ rasch nach. Da sie so lange dem Tunnel gefolgt waren, konnten sie an jedem beliebigen Ort irgendwo im Labyrinth der Gänge der Ordensburg sein.
    Plötzlich ragten zwei mächtige Füße aus dem Nebel: Das war die große Statue des Gehenkten Erlösers, die sie vor über einer Stunde hinter sich gelassen hatten.
    Fünf Minuten später reihte sich jeder für sich in die Schar der Wartenden vor dem Schlafsaal ein, der die pompöse Bezeichnung »Dormitorium Unserer Lieben Frau vom immerwährenden Beistand« trug. Was das im Einzelnen heißen sollte, wusste niemand und man scherte sich auch nicht darum. Schon stimmten sie in den Gesang der anderen Zöglinge ein: »Und wenn mich heute Nacht der Tod ereilte? Wenn mich heute Nacht der Tod ereilte? Wenn mich heute Nacht der Tod ereilte?« Die Antwort auf diese bange Frage hatten sie von Kindesbeinen an von den Erlösermönchen immer wieder gehört: Die Meisten würden wegen ihrer schwarzen Seelen in die Hölle kommen und dem ewigen Feuer preisgegeben werden. Jahrelang war Cale, wenn es um den plötzlichen Tod in der Nacht ging – und davon war oft die Rede -, vor die versammelte Gruppe gezerrt worden. Dann riss ihm der Dienst habende Mönch die Kutte hoch und zeigte auf die zahlreichen Blutergüsse, die Cales Rücken vom Nacken bis zur Kreuzgegend bedeckten. Die Ergüsse waren von unterschiedlicher Größe und in verschiedenen Stadien der Heilung, sodass sich aus den Blau-, Grau- und Grüntönen und den Rotnuancen von Vermeil bis Purpur ein beeindruckendes Schauspiel ergab. »Schaut euch diese Farben an!«, ermahnte sie dann der Mönch. »Eure Seelen, die eigentlich so weiß wie Schnee sein sollten, haben die abscheulichen Farben des Rückens dieses Jungen. So seht ihr alle in den Augen Gottes aus, purpurn bis schwarz. Und wenn einen von euch der Tod heute Nacht ereilt, braucht ihr gar nicht erst zu fragen, ob ihr zu den Geretteten oder den Verdammten gehört. Ihr werdet zu den Verdammten gehören, Höllentiere werden euch fressen, verdauen, ausscheiden und erneut fressen. In eisernen Öfen, eigens für euch bis zur Weißglut erhitzt, werdet ihr eine Stunde lang geschmort, euer Fett ausgelassen, bis ein Teufel kommt und Fett und Asche zu einem abscheulichen Teig knetet, aus dem ihr erneut entsteht, um wieder verbrannt zu werden und immer so weiter bis in alle Ewigkeit.«
    Ein hoher geistlicher Würdenträger, der sich auf Dienstreise befand, ein gewisser Monsignore Compton, ein erklärter Gegner Boscos, hatte einmal dieser Zurschaustellung beigewohnt und ebenso einer Auspeitschung, von der solche Wundmale stammten. »Die Zöglinge«, sagte Monsignore Compton, »werden für den Kampf gegen die Ketzerei der Antagonisten erzogen. Solch schwere Züchtigungen brechen aber den Geist dieses Kindes, mag es auch zum Tummelplatz des Teufels geworden sein, lange bevor es die Härte besitzt, die es benötigt, um mit uns den ketzerischen Frevel vor Gottes Anblick zu vertilgen.«
    »Der Junge ist nicht widerspenstig und alles andere als ein Tummelplatz des Teufels.« Bosco war sonst immer sehr vorsichtig in seinen Äußerungen über Cale. Umso mehr ärgerte es ihn, dass er sich zu einer solch rätselhaften Erklärung hatte hinreißen lassen.
    »Warum duldet Ihr dann solche Exzesse?«
    »Fragt mich nicht weiter. Nehmt es einfach als gegeben hin.«
    »Antwortet mir, Bosco.«
    »Ich sagte doch, dass ich mich nicht weiter dazu äußern will.«
    Monsignore Compton, der sich diesmal klüger als Bosco zeigte, ließ es dabei bewenden. Allerdings versäumte er es nicht, zwei bezahlte Spitzel in der Ordensburg zu beauftragen, ihm alles zu hinterbringen, was sie über den Zögling mit dem zerschundenen Rücken in Erfahrung bringen konnten.
    »Und wenn mich heute Nacht der Tod ereilte? Wenn mich heute Nacht der Tod
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