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Die linke Hand Gottes

Die linke Hand Gottes

Titel: Die linke Hand Gottes
Autoren: Paul Hoffman
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räumen.« Pater Bent hatte gewiss nicht mehr alle fünf Sinne beieinander, aber seine allseits bekannte Vergesslichkeit war zum großen Teil der Tatsache zuzuschreiben, dass die Zöglinge bei jeder sich ihnen bietenden Gelegenheit ihn als Schuldigen vorschoben, wenn sie etwas verlegt hatten oder wenn irgendetwas an ihrem Verhalten zu beanstanden war. Wurden sie an einem Ort angetroffen, wo sie nichts zu suchen hatten, oder wurden sie bei etwas ertappt, was gegen die Vorschriften war, so verteidigten sie sich zuerst einmal mit dem Hinweis, das sei auf Pater Bents Anordnung hin geschehen. Auf dessen schlechtes Gedächtnis war Verlass, er würde ihnen nicht widersprechen.
    »Bring mir mein Gewand.« Vague Henri sah Glebe an, als habe er dieses Wort noch nie gehört.
    »Nun, was ist?«, drängte Glebe.
    »Gewand?«, fragte Henri. Glebe wollte schon auf ihn losgehen und ihm eine Ohrfeige geben, da antwortete Vague Henri fröhlich: »Jawohl, gnädiger Vater.« Er ging zu einem anderen Wandschrank und riss in einem Anflug von Begeisterung die Tür auf.
    »Schwarz oder weiß, gnädiger Vater?«
    »Was ist eigentlich mit dir los?«
    »Mit mir los?«
    »Ja, du Trottel. Warum sollte ich an einem Werktag im Monat der Toten ein schwarzes Messgewand anlegen?«
    »An einem Werktag?«, wiederholte Vague Henri, als hätte ihn dieser Ausdruck verblüfft. »Aber selbstverständlich, Ihr braucht ja ein Tranokium.«
    »Wovon redest du eigentlich?« Glebes Ton war gereizt, aber auch unsicher. Es gab hunderte Arten von Gewändern und Paramenten, von denen viele in den tausend Jahren seit der Gründung der Ordensburg außer Gebrauch gekommen waren. Ganz offensichtlich hatte Glebe noch nie von einem Tranokium gehört, was nicht bedeutete, dass es so etwas nicht gab.
    Unter dem wachsamen Auge von Pater Glebe zog Vague Henri eine Schublade auf. Er suchte eine Weile, dann nahm er eine feine Perlenkette heraus, an deren Ende ein rechteckiges Stück Sackleinen hing. »Das wird am Gedenktag des Märtyrers Fulton getragen.«
    »So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht getragen«, sagte der nach wie vor verunsicherte Glebe. Er trat an das Evangeliar und schlug es am Datum des Tages auf. Tatsächlich war es der Tag des Märtyrers Fulton, nur gab es für die vielen Märtyrer nicht genügend Tage, sodass der weniger wichtigen Märtyrer nur alle zwanzig Jahre gedacht wurde. Glebe rümpfte ärgerlich die Nase.
    »Los, beeil dich, wir sind schon spät dran.«
    Mit der angemessenen Feierlichkeit legte Henri das Tranokium um Glebes Hals und half ihm anschließend in das reich bestickte weiße Messgewand. Dann folgte er Glebe zum Morgengebet in die Basilika, wo er die folgende halbe Stunde die Erinnerung an die Episode mit dem Tranokium genoss, ein liturgisches Beiwerk, das es nur in seiner Phantasie gab. Er hatte keine Ahnung, was dieses quadratische Stück Sackleinen am Ende der Halskette zu bedeuten hatte. Auf jeden Fall hatte er sich wieder einmal das Vergnügen verschafft, einen Mönch zum Narren zu halten, wenn auch unter hohem Risiko. Wäre der Streich aufgeflogen, hätte man ihm das Fell gegerbt, und das nicht nur im übertragenen Sinne.
    Sein Spitzname »Vague Henri«, den Cale ihm gegeben hatte, passte genau, aber nur die beiden wussten wirklich, was er bedeutete. Außer Cale begriff keiner, dass Henris Art und Weise, jede Frage zu wiederholen und die Antwort so lange wie möglich hinauszuzögern, keineswegs für einen langsamen Verstand oder mangelndes Ausdrucksvermögen sprachen, sondern eine besonders listige Taktik darstellte, die Mönche bis an die Grenze ihrer nicht sehr großen Toleranz zu reizen. Als Cale gemerkt hatte, worum es Henri eigentlich ging, bewunderte er diesen unglaublichen Schneid und brach eine seiner wichtigsten Regeln, keine Freunde zu haben und niemandem zu erlauben, sich mit ihm anzufreunden.

    Cale setzte sich auf eine Bank in der Basilika Nummer vier und wollte beim Demutsgebet Schlaf nachholen. Er beherrschte die Kunst, vor sich hin zu dösen und sich zugleich über seine inneren Sünden zerknirscht zu geben. Fünfhundert Jungen schworen im Chor, niemals Sünden zu begehen, die außerhalb ihrer Möglichkeiten lagen, wenn sie überhaupt verstanden hätten, was sie bedeuteten: Fünfjährige schworen, niemals ihres Nächsten Weib zu begehren, Neunjährige gelobten, unter keinen Umständen Götzenbilder anzufertigen, und Fünfzehnjährige versprachen, diese Götzenbilder nie anzubeten, wenn sie sie tatsächlich
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