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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter
Autoren: Peter Schneider
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steif machte. War es nicht lächerlich? Ich schritt durch die Kramergasse, als müsste ich in wenigen Minuten einem international gesuchten Verbrecher vom Format des KZ -Mörders Josef Mengele gegenübertreten, den ich entlarven und ihn anschließend der Polizei übergeben würde. Was genau hatte ich denn Willi vorzuwerfen? Falls er überhaupt derjenige war, den ich suchte – er war doch selber noch ein Kind gewesen, ein verrückter charismatischer Junge, der in den Jahren des Hungers seine Überlebenschance wahrgenommen und zwei phantasiebegabte Nachbarskinder mit seinen Geschichten unter seinen Einfluss gebracht hatte. Natürlich konnte er nicht wissen, was er mit seinen Lügen in unserer Beziehung zu unserer Mutter und unserem Leben angerichtet hatte.
    Und konnte ich mir diesen auf seine Weise hochbegabten Jungen wirklich als einen achtzigjährigen Schreiner und Inneneinrichter in Grainau vorstellen? Als einen Mann, der nach seinem großen Auftritt als irdischer Vertreter des Erzengels Michael zeit seines Lebensim Dorf geblieben war, um in den ehemaligen Bauernhäusern der Einheimischen, die damals nur Plumpsklos kannten, Marmorbäder und das eine oder andere Bücherregal einzubauen?
    Eine Frau mit weißen Haaren – war es Willis Frau? – machte mir auf und schickte mich in die Schreinerei hinter dem Haus. Als ich eintrat, blickte ich auf einen gebeugten Kopf mit stark gelichteten Haaren. Willi war mit dem Abhobeln einer alten Tür beschäftigt und sah erst auf, als er seine Arbeit beendet hatte. Die Augen hinter der starken Brille konnten einmal blau gewesen sein – inzwischen war ihre Farbe zu dem Einheitsgrau verblichen, das die Augen alter Leute kennzeichnet. Er blickte mich von unten an – mit einem abwartenden Blick. Ich suchte in seinem Gesicht nach irgendeinem unveränderlichen Merkmal, an das ich mich nicht erinnerte, von dem ich aber hoffte, dass es mir im Augenblick der Begegnung mit Willi wieder einfallen würde – nach einer Warze, einer Narbe. Aber hatte es ein solches Merkmal je gegeben?
    Ich erklärte ihm, warum ich hergekommen sei; ich hätte meine Kindheit nur ein paar Hundert Meter entfernt in der Alpspitzstraße verbracht – in dem dunklen Holzhaus auf dem Hügel – und damals einen Freund gehabt, der schräg gegenüber im Haus des Architekten wohnte.
    Da hellte sich Willis Miene plötzlich auf. Der Willi, den ich suchte, sei ein ganz anderer Willi. Allerdings wohne der nicht mehr in Grainau. Ich solle Peter Schuster,den ehemaligen Bürgermeister, den Sohn von Maria Schuster, fragen. Wenn einer im Dorf, dann könne der Peter mir Näheres über den von mir gesuchten Willi sagen. Der falsche Willi wusste dann auch gleich, wo ich den Peter um diese Zeit finden könne: auf dem Sportplatz, da trainiere er die Fußballjugend von Grainau.
    Ich setzte mich ins Auto und nahm die von Willi bezeichnete Straße zum Fußballplatz. Der Platz war leer, aber weit hinten, an den Umkleidekabinen, entdeckte ich einen älteren Mann mit einem Bierbauch. Mit einem Helfer reparierte er gerade ein Türschloss. Ja, sagte Peter Schuster, als ich ihn ansprach, er sei mit einem Willi Krause zur Schule gegangen. Beim 40. Jahrestag des Schulabgangs aus der Grainauer Volksschule habe er versucht, die ganze Klasse noch einmal vollzählig zu versammeln. Er habe damals sogar den Polizeipräsidenten des Landes, mit dem er seit Schülerzeiten befreundet gewesen sei, gebeten, die Adressen sämtlicher unbekannt verzogener Klassenkameraden ausfindig zu machen. Ein einziger sei nicht auffindbar gewesen: Willi Krause – oder hieß er Kraus? Was eindeutig bedeutete, dass Willi damals nicht mehr in Bayern und in Deutschland gemeldet war; denn sein Freund, der Polizeipräsident, habe Zugriff auf sämtliche Adressen der Bundesrepublik gehabt. Jahre später habe ihm jemand erzählt, Willi sei nach Südafrika ausgewandert.
    Irgendetwastrieb mich, die alten Wege und Strecken abzulaufen, die ich als Kind gegangen war. Mit dem Leihwagen fuhr ich zum Eibsee, zu dem wir in den Sommerferien, wenn der Vater uns besuchte, zu Fuß gegangen waren. Damals hatten wir für die Strecke, die ich jetzt in wenigen Minuten zurücklegte, eine ganze Stunde gebraucht, und für mich war es jedes Mal ein Rausch, ein Glücksgefühl gewesen, wenn ich zwischen dem dichten Geäst der Tannen die ersten Streifen des Wassers aufscheinen sah.
    Der Eibsee sah immer noch so aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Ich verspürte eine irgendwie alberne Dankbarkeit,
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