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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter
Autoren: Peter Schneider
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neunzig Jahren ohne irgendein Gebrechen lebte. Sie bewegte sich wie eine Fünfzigjährige, hörte und sprach ohne jede Mühe und konnte ohne nachzudenken eine Skizze mit allen in der Nachkriegszeit bereits vorhandenen Häusern in der Alpspitzstraße und Umgebung in mein Notizbuch zeichnen – mitsamt den Namen ihrer damaligen Bewohner. Auch an meine Mutter konnte sie sich erinnern, sprach aber über sie mit einer gewissen Zurückhaltung. Die Bauern und die Leute aus der Stadt hätten sich in getrennten Kreisen bewegt und einander kaum getroffen.
    Oder wollte sie mich mit den Gerüchten über meine Mutter, die vermutlich nicht nur Willi verbreitet hatte, schonen?
    Ich fragte sie nach Willi. Ja, der Willi habe schräg gegenüber von uns gewohnt, im Haus des Architekten, aber dieser Architekt sei nicht Willis leiblicher Vater gewesen. Willis Mutter, Tochter einer ausgebombten Verleger-Familie aus Würzburg, sei mit dem Tropenarzt Dr. Krause verheiratet gewesen, habe sich aber scheiden lassen, weil der Doktor nach jedem Weiberrock im Dorf gegriffen habe. Der Tropenarzt sei in Wirklichkeit gar kein Doktor gewesen, sondern ein Scharlatan.Als er merkte, dass die Städter im Dorf ganz wild auf homöopathische Medikamente waren, habe er die kleinen weißen Kügelchen mit seiner Assistentin und späteren Geliebten in Massen hergestellt, aus Puderzucker!, und für viel Geld verkauft. Willis Mutter habe sich von Krause getrennt und sei mit ihrem Sohn zu dem Architekten in die Alpspitzstraße gezogen, schräg gegenüber vom Haus des Reichstagsabgeordneten.
    Frau Schuster war sich wegen dieser Wirren nicht ganz sicher über Willis Nachnamen – ob er nach seiner Mutter, nach seinem Vater oder nach dem Architekten geheißen habe. Ich solle in die Kramergasse gehen, dort wohne jedenfalls ein Willi Krause. Er betreibe eine Schreinerei.
    Ich machte mich auf den Weg zu Willi.
    Die Aussicht, nach gut sechzig Jahren dem Menschen wieder zu begegnen, der mein Leben zu der Zeit, als ich darüber nicht bestimmen konnte, stärker beeinflusst hatte, als er wissen konnte, ließ eine seltsame Aufregung entstehen. Was würde ich Willi zur Begrüßung sagen: Guten Tag, entschuldigen Sie den Überfall! Wir beide haben vor mehr als sechzig Jahren im Zigeunerwald gespielt! Damals habe ich schräg gegenüber von Ihnen in der Alpspitzstraße gewohnt. – Oder: Hey Willi, kennst du mich noch? Ich bin der Junge, dem du das Fliegen beibringen wolltest. Erinnerst du dich, wie wir nach dem Eishockeyspiel in Garmisch durch den Wald nach Grainau zurückgelaufen sind? Nachtsum zwölf? Zufällig weiß ich noch ziemlich genau das Datum: Es war drei Wochen vor dem Tod meiner Mutter. – Oder: Wie war das eigentlich mit dem Erzengel Michael? Kannst du inzwischen fliegen? Hast du an deine Lügen selbst geglaubt?
    Zum ersten Mal fragte ich mich, wie Willi eigentlich ausgesehen hatte. Ich wusste, er hatte schwarze Haare, blaue Augen, war eher zierlich als kräftig, seine Macht über uns war nicht körperlicher Art gewesen. Ein gut aussehender Junge mit einer regen Phantasie, in den sich meine Schwester – nach dem Zeugnis der Mutter – verliebt hatte. Hatte er eigentlich Bayrisch gesprochen oder Hochdeutsch wie wir? Wenn Maria Schuster recht hatte, war Willi selber ein Flüchtlingskind gewesen, Sohn eines Kriegsheimkehrers, eines Schwindlers und Angebers, der nach dem Krieg eine gut gehende Praxis aufgebaut hatte. Ein Scheidungskind in der Pubertät, konnte man schließen, das sich nach der Trennung seiner Eltern von seiner Mutter und dem Stiefvater nichts mehr sagen ließ.
    Wie war er auf die Geschichte mit dem Erzengel Michael gekommen? Wahrscheinlich war er – zumindest damals, als Halbwüchsiger – ein gläubiger, vielleicht ein fanatischer Katholik gewesen. Aber glaubte er selber an seine privilegierte Beziehung zum Erzengel und an das Märchen vom Fliegen, mit dem er meine Schwester und mich über Jahre zum Stehlen verführt hatte? Oder hatte er seine Geschichten kaltblütig erfunden,um sich anderer Leute Geld und Lebensmittel anzueignen? War es ihm nicht auch – und vielleicht vor allem – um die Macht gegangen, um die Macht eines schlauen, halb erwachsenen Kriegskinds, das es fertigbrachte, unserer Mutter die Kinder abspenstig zu machen und sie zu kommandieren?
    Je näher ich der Schreinerei von Willi kam, desto verrückter erschien mir das Vorhaben, ihn nach so langer Zeit zur Rede zu stellen. Eine absurde Wut hatte mich erfasst, die meine Glieder
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