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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter
Autoren: Peter Schneider
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Briefen weiter zu beschäftigen, kam mir auf einmal kindisch vor, wie ein lebenslang aufrechterhaltenes Trotzverhalten. Die Briefe boten mir die Gelegenheit, mich der Mutter, an die ich nur wenige deutliche Erinnerungen hatte, zu nähern, sie überhaupt erst kennenzulernen. Aber da war noch etwas anderes, das mich trieb: Die Ahnung, ich würde aus diesen Briefen etwas über mich und ein Verhängnis erfahren, das mein Leben stärker bestimmt hatte, als ich hatte wahrhaben wollen. Der Wunsch, Frieden mit der Mutter zu machen. Oder war es nicht eher die Mutter, die Frieden mit mir machen sollte? Ich hatte sie zum letzten Mal gesehen, als ich acht Jahre alt war.
    Durch die Hilfe von Gisela Deus, die kaum älter ist als ich und die Sütterlinschrift auch nie gelernt hat, wurden die Briefe einer nach dem anderen lesbar. Sie hatte sich jedoch schon als Kind bemüht, die in der fremden Schrift geschriebenen Briefe ihrer Eltern zu entziffern. Mit zunehmender Neugier las Gisela Deus sich in die Handschrift und den Seelenzustand meiner Mutter ein, aber auch ihr gelang es nicht, alle Wörter zu entschlüsseln. Mit der Zeit entwickelte sie eine Art Jagdinstinkt, der sie trieb, der Suche nach einem fraglichen Wort, einem Halbsatz so lange zu folgen, bis ihr die Lösung zufiel.Wenn sie nicht weiterkam, so erklärte sie, habe sie sich manchmal einen Kaffee gemacht, den Fernseher angeschaltet oder sei einkaufen gegangen. Aber die ganze Zeit über sei sie, ohne es zu wollen, in Gedanken zu der fraglichen Passage zurückgekehrt. Und plötzlich sei die Lösung vor ihrem inneren Auge gestanden. Meistens habe ihr nur die Einfühlung in die Diktion und den Seelenzustand meiner Mutter weitergeholfen. Sie wunderte sich, warum ich mir nie die Mühe gemacht hatte, der sie sich unterzog. Wenn ich nur gewollt hätte, meinte sie, hätte auch ich die Briefe lesen können.
    Die Übersetzerin der Briefe meiner Mutter wurde im Lauf der Monate und Jahre zu einer unentbehrlichen Gesprächspartnerin. Anfangs rätselten wir gemeinsam nur über das eine oder andere unleserliche Wort. Später ging es immer mehr um die Bedeutung eines ganzen Satzes, um seine Einordnung in den Kontext, um die Persönlichkeit der Verfasserin. Gisela Deus geriet immer mehr in den Sog der Briefe, sie lebte mit ihnen und begann sich mit der Verfasserin zu identifizieren. Sie war angerührt von der melancholischen Grundmelodie der Briefe und von der Schönheit der Sätze, die meine Mutter für ihre Stimmungen gefunden hatte. Manchmal, so gestand sie mir, wenn sie im Wind auf einem kalten S-Bahnhof stand, fiel ihr eine Passage aus einem der zuletzt übersetzten Briefe ein und jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Sie wurde zu einer Anwältin meiner Mutter und verteidigte den einen oder anderen Brief gegen meine Lesart. Manchmalkam es zum Streit zwischen uns, und ich musste mich des Eindrucks erwehren, dass ich nicht der Entzifferin der Briefe, sondern ihrer Verfasserin gegenübersaß.
    Aus den Briefen trat mir eine junge Frau entgegen, die ich nicht kannte. Eine Mutter, die sich für ihre Kinder zerriss und sie dank ihres Wagemuts und ihrer praktischen Intelligenz auf einer langen Flucht aus dem äußersten Nordosten Deutschlands wohlbehalten in den südlichsten Zipfel Bayerns brachte. Eine Ehefrau, die ihrem Mann Heinrich zwischen tausend Nachrichten über das Alltägliche und das Wohlergehen der Kinder zärtliche, manchmal auch zickige Zeichen ihrer Liebe schickte. Und eine Träumende, die von ihrer Leidenschaft für Andreas, einen Freund und Kollegen ihres Mannes, verzehrt wurde.
    Vor allem aber lernte ich eine Schreibende kennen, die ihren Schwankungen zwischen Lebenslust und Schwermut fast hilflos ausgeliefert war, aber noch in den Augenblicken völliger Verzweiflung über eine erstaunliche Ausdrucksfähigkeit verfügte. Das Schreiben ist für die Mutter offenbar ein Überlebensmittel gewesen, eine Waffe, mit dem sie die zerstörerischen Kräfte, die von außen wie von innen auf sie einstürmten, in Schach zu halten versuchte. Die Form, die sie in ihrem kurzen Leben für das Schreiben fand, waren ihre Briefe. Sie war einundvierzig, als sie starb.
    Übermich, den damals Sieben- und Achtjährigen, hatte sie alle Macht verloren. Hilflos musste sie mit anschauen, wie meine ältere Schwester und ich in den Bann eines jugendlichen Zauberers gerieten, der ihr den Zugang zu uns versperrte. Nachts im Bett verwandelte ich mich in ein anderes Wesen. Ich flog, aber dies war kein
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