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Sommerkind

Sommerkind

Titel: Sommerkind
Autoren: Diane Chamberlain
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PROLOG
    A n ihrem elften Geburtstag wurde Daria Cato zur Heldin.
    Nach einem schweren Unwetter in der vergangenen Nacht hatte sich eine bleierne Stille über das Sea Shanty gelegt. Wie üblich erwachte Daria schon früh. Am Himmel vor ihrem Zimmerfenster zeigten sich die ersten zaghaften Boten der Morgendämmerung. Sie öffnete das Fenster über der Frisierkommode und ließ die laue Morgenbrise herein. Vom Ozean drang ein ruhiges rhythmisches Rauschen herüber, kein aggressives Peitschen wie in der Nacht zuvor. Daria sog den Geruch von Salz und Tang in tiefen Zügen ein. Der Sonnenaufgang würde an diesem Morgen gigantisch sein.
    Schnell zog sie ihren Schlafanzug aus und schlüpfte in Shorts und Top. Dann öffnete sie leise die Zimmertür und trat auf die Diele hinaus. Auf Zehenspitzen schlich sie an den Zimmern ihrer Schwester Chloe und ihrer Cousine Ellen vorbei. Ellens Mutter schlief unten im Hochparterre, das Schlafzimmer von Darias Eltern lag im zweiten Stock. Ihr Vater würde bald aufstehen, um die Frühmesse zu besuchen, aber ihre Mutter, Tante Josie, Ellen und Chloe würden mindestens noch eine Stunde schlafen. Sie konnten nicht nachvollziehen, warum der Strand in den frühen Morgenstunden eine solche Faszination auf Daria ausübte. Aber das war ihr auch ganz recht. Sie war lieber allein, wenn Sand und Himmel Morgen für Morgen ihre Farbe und Struktur änderten. Dieser Morgen würde etwas Besonderes werden; nicht nur wegen des Sturms, sondern weil es ihr Geburtstag war. Elf. Irgendwie eine stumpfsinnige Zahl, und immer noch zwei Jahre, ehe sie sich einen Teenager würde nennen können. Aber ohne Frage besser als zehn.
    Barfuß tappte Daria die Treppe hinunter, wobei sie sich bemühte, nicht auf die Stufe zu treten, die immer knarrte. Ob irgendwer an ihren Geburtstag denken würde? In diesem Jahr würde bestimmt alles anders sein als im letzten, als ihre Mutter für sie und die anderen Kinder, die in der Sackgasse wohnten, eine Party veranstaltet hatte. Ja, dieses Jahr war zum Anderssein geradezu prädestiniert. Weil ihre Mutter anders war. Sie hatte sich in den letzten Monaten verändert, und diese erste düstere und wolkenverhangene Woche in Kill Devil Hills in North Carolina hatte nicht gerade zur Besserung ihrer mürrischen Laune beigetragen. Sue Cato schlief fast jeden Tag lange, und war sie dann endlich auf den Beinen, schlich sie griesgrämig durchs Haus. Nur mit Mühe schien sie sich an die Namen ihrer Töchter zu erinnern, von den Geburtstagen gar nicht zu reden. Chloe würde das natürlich egal sein. Sie war diesen Sommer siebzehn geworden; die Schlaue in der Familie, die gerade ihr erstes Jahr am College hinter sich gebracht hatte und sich nur für Jungs interessierte und dafür, mit welchem Nagellack sie sich die Fußnägel anmalen könnte. Das war der Zeitpunkt, als sich unsere Mutter verändert hat, dachte Daria, als Chloe ans College ging. “Allmählich verliere ich meine kleinen Mädchen”, hatte Daria ihre Mutter am Vortag zu Tante Josie sagen hören.
    Und außerdem würden sich die Jungen und Mädchen aus der Straße auch nicht gerade darum reißen, auf die Geburtstagsfeier einer Elfjährigen zu gehen. Jetzt, wo sie alle Teenager waren. Alle außer ihr! Gut, dass mir das Alleinsein nicht so viel ausmacht, dachte sie, als sie die Haustür öffnete und auf die große, mit Fliegengittern gesäumte Veranda des Sea Shanty trat. Denn allem Anschein nach würde sie diesen Sommer die meiste Zeit für sich sein.
    Von der Veranda aus konnte Daria auf der anderen Straßenseite das Poll-Rory sehen, das Cottage von Rory Taylor. Selbst Rory, mit dem sie die Sommer verbracht hatte, seit sie denken konnte, war nun vierzehn und ignorierte sie völlig. Es war, als hätte er all die Stunden vergessen, in denen sie zusammen geangelt und Krebse gefangen oder in der Bucht Wettschwimmen veranstaltet hatten.
    Im Poll-Rory brannte kein Licht. Und als sie zu dem Fenster im Obergeschoss hinaufsah, wo Rorys Zimmer lag, spürte sie im Herzen einen stechenden Schmerz.
    “Wer braucht dich schon”, murmelte sie, stieß die Fliegengittertür auf und stieg die Stufen hinunter in den kühlen Sand. Sie schlenderte zum Strand, über dem der Himmel gerade sein allmorgendliches kupferrotes Schauspiel begann.
    Alle sechs Häuser in der Straße waren auf Stelzen gebaut, wie die meisten meerwärts liegenden Gebäude auf den Outer Banks. Darias Vater und Onkel hatten das Sea Shanty in ihrem Geburtsjahr fertiggestellt. Da nur ein
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