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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter
Autoren: Peter Schneider
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der mir augenblicklich die Schmerzen nahm. Er zog mich hoch und trug mich huckepack nach Hause.
    Auf dem Weg erzählte er mir vom Erzengel Michael, der ihm die Kräfte verliehen habe, meine Wunde zu heilen. Kraft seiner Verbindung mit dem Engel werde er mir Dinge beibringen, von denen ich nur zu träumen wagte. Fliegen zum Beispiel. Ja, er wisse von meinem Wunsch zu fliegen und werde mich in dieser Kunst unterrichten. Aber mit Fliegen meine er nicht das Hüpfen von Hügel zu Hügel, auch nicht das spatzenhafte Springen von Dach zu Dach, sondern das Adler-Fliegen hinauf zu den Alpspitzen, das Schweben hoch über den Wolken und in Himmelshöhen, wie es die Engel machten. Allerdings müsse ich zuvor eine Probezeit bestehen und dürfe mit niemandem über unser Bündnis sprechen. Wenn ich auch nur ein Wort über unseren Pakt verriete, könne er mich nicht mehr schützen, die Teufel, die auf den Dachböden und in den Heuschobern lauerten, würden mich holen, sie würden mir mit glühenden Peitschen den nackten Hintern versohlen und hinterher Salz in die Wunden streuen.
    Willi setzte mich fünfzig Meter entfernt vom Zaun unseres Hauses ab. Kein Wort, hast du verstanden, sonst platzt deine Wunde auf und wird nie mehr heilen.
    Die Mutter wollte wissen, wo ich so lange nach der Schule geblieben war. Ich erzählte ihr von unseren Kriegsspielenim Zigeunerwald, kein Wort über Willi und meine Wunde. Es war das erste Mal, dass ich ihr etwas verschwieg.
    Tage später traf ich Willi nach der Schule wieder, auf dem Nachhauseweg. Mit seinem Schulranzen wirkte er plötzlich kleiner und unscheinbarer, als ich ihn in Erinnerung hatte – ein dunkelhaariger Fünfzehnjähriger mit gescheitelten Haaren. Ich tat so, als würde ich ihn nicht kennen, und ging ohne zu grüßen an ihm vorbei. Da schlug er mir mit der Hand auf den Rücken, genau auf die wunde Stelle, und ich blieb stehen. Er sagte mir, meine Probezeit habe längst angefangen, der heilige Michael wolle meine Treue prüfen. Der Erzengel brauche Lebensmittel und vor allem Geld, denn im Himmel gebe es kein Geld; und manchmal, wenn er in Menschengestalt unter Menschen wandele und in einem Lebensmittelladen stehe, müsse er Geld auf den Tisch legen, um sich nicht zu verraten.
    Dass der Erzengel ein paar Mark in der Tasche haben musste, um sich zu tarnen, leuchtete mir ein. Aber Lebensmittel? Ich hatte nie gehört, dass Engel essen und womöglich auch verdauen.
    In den folgenden Tagen klaute ich Radieschen, Möhren und Tomaten, die meine Mutter – wie jeder, der in den Nachkriegsjahren ein Stück Erde hatte – in den Beeten hinter dem Haus zog. Willi lobte mich, war aber mit den Erträgen meiner Diebstähle nicht zufrieden; der Erzengel brauche kein Gemüse, sondern Geld und Lebensmittel. Ich begann, Geld und Lebensmittelmarkenaus dem Portemonnaie meiner Mutter zu stehlen. Ich bin nicht sicher, ob ich mir dabei eines Vergehens bewusst war, schließlich handelte ich im Auftrag einer höheren Macht. Dennoch konnte ich das Gefühl, dass ich mit meinem Diebstahl gegen die Regeln verstieß, nicht unterdrücken. Und es fiel mir schwer zu verstehen, dass der Engel immer ungeduldiger, ja immer gefräßiger wurde. Er wollte nicht nur Lebensmittel und Geld, sondern Luxusgüter: Fleisch, Schokolade, Zigaretten. Je mehr von diesen Dingen ich ihm beschaffen könne, sagte Willi, desto schneller werde ich das Fliegen lernen. Nach und nach, ohne dass ich es merkte, würden mir Flügel wachsen. Ich solle jeden Sonntag meine Arme und Beine prüfen und ihm sagen, wenn ich eine Veränderung bemerkte.
    Fleisch und Butter konnte ich unmöglich beschaffen, aber Zigaretten. Ich kannte ein paar Jungen aus der Nachbarschaft, die aus den Vorratszelten der Amerikaner Zigaretten klauten und damit Handel trieben. Die Geldsummen und Lebensmittelmarken, die ich zu Hause stahl, waren bald so beträchtlich, dass die Mutter sich die Lücken nicht mehr erklären konnte. Verzweifelt begann sie, Verhöre mit meiner Schwester und mir anzustellen, die ich glimpflich überstand, weil ich ihrer Meinung nach zu klein war, um als Dieb in Betracht zu kommen. Wie sollte sie auch ahnen, dass ihr Siebenjähriger den Anführer der himmlischen Heerscharen aus ihrem Portemonnaie versorgte? Der Verdacht blieb an unserer Haushaltshilfe haften.
    Nachder Schule traf ich mich mit Willi hinter unserem Haus am Geräteschuppen, an dessen Vordach eine Schaukel befestigt war. Abend für Abend übten wir dort das Fliegen. Meine Aufgabe bestand
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