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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter
Autoren: Peter Schneider
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darin, Schwung zu holen, so viel Schwung, dass ich mit dem Kopf fast an das Gebälk des Vordachs stieß, und beim letzten Ausschwingen abzuspringen. Willi wies mich an, beim Absprung beide Arme nach vorn zu werfen, die Beine erst kurz vor dem Aufsetzen anzuwinkeln, um meinen Flug auf diese Weise ein paar Zentimeter zu verlängern. Wenn ich die Linie träfe, die Willi in den Boden gefurcht hatte und selbst regelmäßig übersprang, würde ich vom Erzengel Michael in den Kreis seiner Lehrlinge aufgenommen.
    Aber so heftig ich auch Schwung holte, so mutig ich vom höchsten Punkt der schwingenden Schaukel ins dunkle Freie sprang, die Linie vermochte ich nie zu erreichen. Ich haderte mit Willi, haderte mit dem Erzengel, wollte wissen, warum ich ihm trotz meiner üppigen Geschenke nicht ein einziges Mal begegnet war. Hatte ich nicht eben erst die halbe Speisekammer für ihn ausgeraubt? Willi tröstete mich: Ob ich denn nicht merkte, dass ich eben fast einen Meter weiter geflogen war als zu Beginn meiner Flugübungen? Der Erzengel verzeihe vieles, aber eine Sünde nicht: den Zweifel an seiner Macht und an der Gültigkeit seiner Versprechen.
    Hat die Mutter nicht geahnt, dass ich unter einen fremden Bann geraten war? Oder wollte sie nichts davonwissen, weil sie mit der täglichen Sorge um die Ernährung und durch die Näharbeiten für vier Kinder ohnehin überfordert war? Aus ihren Briefen geht hervor, dass sie Willi anfangs durchaus mochte. Er hatte sich ihre Gunst verschafft, weil er ihr manchmal beim Tragen der Einkäufe und beim Schleppen der schweren Holzstücke zum Geräteschuppen half, die der Lieferant auf der Straße ablud. Und er war ihr wohl noch auf andere Weise nützlich. Immer wenn die Mutter Besuch aus der Stadt hatte – und Besuch kam oft –, war er zur Stelle. Vom Balkon des Hauses gegenüber, in dem er wohnte, konnte er gut beobachten, wer bei uns ein oder aus ging. Meistens war es Linda, die beste Freundin der Mutter, die ein paar Tage oder auch ein paar Wochen blieb. Aber manchmal kamen auch Männer, die uns als Freunde der Eltern vorgestellt wurden – Männer in Anzügen mit feingliedrigen Fingern, Theaterleute, die von weit her anreisten. Sie brachten der Mutter und uns Geschenke mit, die man im Dorf nicht kaufen konnte, strichen uns über den Kopf und wiederholten geduldig die Vornamen, die die Mutter ihnen vorgesagt hatte. Anschließend verwechselten sie die Namensträger, und auch wir vergaßen, wie sie hießen. Wir wussten, dass die Mutter keine Zeit für uns hatte, wenn Gäste aus der Stadt eintrafen, und Willi wusste es auch. Dann stand er am Gartentor und rief nach Hanna oder mir. Er hatte rasch begriffen, dass meine Mutter es nicht ungern sah, wenn er ihr die Kinder für eine Weile abnahm.
    Einmalkletterten Willi und ich auf das Dach des Holzschuppens, um von dort einen besseren Absprung für unsere Flugübungen zu haben. Als ich mich gerade abstoßen wollte, hielt Willi mich zurück und deutete auf das Schlafzimmer meiner Mutter. Hinter dem Fenster, behauptete er, habe er sie eben mit dem fremden Mann aus Berlin in einer engen Umarmung gesehen. Er sei sicher, die beiden hätten sich geküsst. Ich bohrte meine Blicke in die dunklen Fensterscheiben, konnte aber weder meine Mutter noch den Gast entdecken. Ich war wütend auf Willi und sagte ihm, er solle mich mit seinen dummen Witzen in Ruhe lassen.
    Spring schon, sagte Willi, oder hast du etwa Angst? Er stieß sich vom Dach ab. Ich tat es ihm nach und wunderte mich. Anders als bei Vögeln halfen rudernde Arme nicht im Geringsten beim Fliegen. Ich war froh, dass ich nach meinem Sturz wieder aufstehen konnte. Willi zog mich hoch und forderte mich auf, ihm zu folgen. Er werde mir sofort beweisen, dass er keinen Unsinn geredet habe, rief er mir zu. Er habe ein Instrument zu Hause, mit dem ich durch geschlossene Fenster, durch Vorhänge und sogar durch Wände schauen könne. Wir rannten den steilen Weg hinunter zum Gartentor und in sein Haus. Dort angekommen, schlich er mit dem Zeigefinger auf den Lippen die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Aus einem Versteck in seinem Zimmer holte er ein Gerät hervor, das ich noch nie gesehen hatte – ein Instrument mit kleinen runden Gläsern, die in einer beweglichen Einfassung steckten. Willi schärfte mir ein, ich dürfe niemandem von diesemGerät erzählen, er habe es in den letzten Kriegstagen von einem Gebirgsjäger gegen eine alte Hose seines Vaters eingetauscht. Dann führte er mich auf den Balkon
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