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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter
Autoren: Peter Schneider
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weil etwa der Zug nicht fährt oder weil sie niemanden gefunden hat, der die Kinder versorgt. Immer ist er es, der viel beschäftigte Regisseur, dem in letzter Minute etwas dazwischenkommt, der nicht die Zeit findet, sie anzurufen, obwohl er einen ganzen Tag lang in unmittelbarer Nähe ist – wofür er sich dann entschuldigt. Überhaupt ist er ständig dabei, sich zu entschuldigen.
    Ab dem Sommer 1944 begibt sich die Mutter mit ihren Kindern auf die Flucht nach Süden. Paul, der Jüngste, ist gerade ein Jahr alt und muss getragen werden. Sie muss auf Züge warten, die sich an keinen Fahrplan halten, sich mit anderen Flüchtlingen um die Plätze streiten, reist von einer Stadt in Sachsen zur nächsten und sucht Unterkunft bei Familienfreunden und Verwandten. Muss sich, wenn sie für ein paar Tage oder Wochen aufgenommen wird, um Holz oder Kohlen für den Ofen kümmern, um Lebensmittel und Kleidungfür die Kinder, muss Windeln waschen, Strümpfe stopfen, Mäntel flicken, durchlöcherte Schuhsohlen reparieren und all diese Arbeiten plötzlich unterbrechen und mit den Kindern in den nächsten Keller hasten, wenn Alarm ist. Jeder Tag ein Zwölf- oder Sechzehnstundentag, sie kann nur Atem schöpfen, wenn ihre nie recht erklärten und nie auskurierten Unterleibsbeschwerden sie wieder einmal in eine Klinik treiben. Und dennoch werden all diese Beschwernisse sie nicht an einer Begegnung mit dem Geliebten hindern – falls er sie denn für ein paar Stunden in seinem Terminplan unterbringen kann.
    Erst nachts, wenn sie die Kinder zu Bett gebracht hat, findet sie die Kraft, ihm ihre hell auflodernden Sehnsuchtsbriefe zu schreiben, ihm ein Päckchen mit Lebensmittelmarken und Tabak zu packen und die gemeinsame Zukunft zu entwerfen, für die sie in ihren Augen doch bestimmt sind.
    Alles, was ihr widerfährt, was sie bewegt, muss sie ihm mitteilen. Einmal, es muss im dritten Kriegsjahr gewesen sein, findet sie sich allein auf einem Spaziergang und folgt einem mächtigen Gesang. Auf einem Abstellgleis im Wald entdeckt sie einen Güterwaggon, voll besetzt mit russischen Kriegsgefangenen. Die Männer haben kaum Platz zum Stehen, sie sind eingesperrt wie die Tiere, aber ihr Gesang ist so mächtig, s o voller Glauben und Gebet, so viel stärker als alle Schwerter dieser Welt , dass sie in Tränen ausbricht. Alle, die so singen können, werden vielleicht jetzt nicht mehr singen – und sicher nicht, solange die Gewalt fortgeht – aber sie werden jene Kraft weitertragen,um derentwillen der Mensch geworden ist: um seiner Freiheit willen.
    Sie schreibt dem Geliebten von ihrer Scham darüber, wie weit sie alle noch von dieser Freiheit entfernt sind, und schon ist sie mit diesem Gedanken wieder bei ihm.
    Die Qual um dich und mich hat Erlösung gefunden in der Qual aller, die da sangen.
    Es ist still am Haus, als sie aus dem Wald zurückkommt, und in der Tür sieht sie ihn stehen, ihn, mit dem sie eben noch in Gedanken gesprochen hat. Sie blickt in seine Augen, schreit auf vor Schreck und Glück. Wie kann es sein, dass er plötzlich auf ihrer Schwelle steht? Hat er ihre Ansprache, ihren Ruf gehört, oder bildet sie sich alles nur ein?
    Manchmal, wenn ich versuche, nüchtern zu sein, begreife ich nichts mehr. Aber ich kann nicht nüchtern sein. Hinter allen dunklen Fragen, hinter aller Ungewißheit steht eben immer unerschüttert mein Glaube daran, daß dies alles nicht umsonst ist. Ich weiß nicht, was es mir sagt: Meine Klugheit, meine Lebenserfahrung, mein Spürsinn – daß du mich und meine Existenz erst verlangst, wenn die Tore des Glücks hinter dir zugeschlagen sind. Siehst du, und dagegen sträubt sich alles in mir, ich müßte ja zu meiner Selbsterhaltung dein Unglück wünschen. Aber das weißt du ja, wie tief und leidenschaftlich ich immer nur wünsche, daß es dir gutgehe, daß du all das um dich hast, was du brauchst zum Atmen. Lieber will ich abseits stehen und von ferne zusehen. Deine Fragen, deine Zweifel halten mich wach, an deinemUnglauben wächst mein Glaube – nur ganz allein lassen darfst du mich nicht. Vielleicht ist’s gut, diese verzehrende Sehnsucht – nach dir – die mich immer wieder herausreißt aus meinem grauen Tag, die mich wach hält, die mir Mut gibt für eine dunkle Zukunft.
    In einem anderen Brief fällt der Satz, der wie ein Menetekel über der Leidenschaft der Mutter steht: Das Gefühl der Liebe ist nicht abhängig von deiner Antwort an mich – sehr abhängig ist aber das Glücksgefühl davon.
    Dem
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