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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter
Autoren: Peter Schneider
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Sohn, dem verspäteten Leser, sträuben sich die Haare, er möchte seiner Mutter ins Wort fallen. Stopp, streiche diesen Satz! Wie soll diese Liebe gut gehen? Du lieferst dich deinem Liebhaber, diesem Götterliebling , wie du ihn nennst, mit Haut und Haaren aus, du bettelst ihn an, du kniest vor ihm!
    Gleichzeitig rührt sie mich mit dem Schluss ihres Briefes, mit dem der viel beschäftigte Andreas womöglich gar nichts anfangen konnte:
    Hab heute meinen Jungen wie einen Märchenprinzen angezogen. Mit einem azurblauen Mantel, den ich mit glitzernden Sternen beklebt hab’. Warum ich dir das erzähle? Weil ich das, was ich da für mein Kind tat, in übertragenem Sinn dir tun möchte. Weil es meine Sehnsucht ist, etwas, was ich meinem Kind zur Freude tat, für dich tun zu können. Könnt’ ich doch dein Herz zart einhüllen in solchen blauen weichen Zaubermantel, daß es beschützt sei von aller Qual. So sind’s nur Worte, die ich dir senden kann. Was ich darüber hinaus noch habe, wagt sich aus unbegreiflichen Gründen nicht ans Licht.
    DieMutter schreibt dies im Herbst des Jahres 1944. Die Westfront ist zusammengebrochen, auch die Ostfront. Die West-Alliierten sind mit ihren Panzern und Bodentruppen über den Rhein vorgestoßen, ihre Flugzeuge werfen ungeheure Bombenlasten über deutschen Städten ab. Nachts die Bomberflotten von General Harris, die mit einem ausgeklügelten Mix von Spreng- und Phosphorbomben unlöschbare Flächenbrände in den Zentren deutscher Städten erzeugen, tagsüber die Bomber der Amerikaner, die kriegswichtige Betriebe und Bahnstrecken unter Beschuss nehmen.
    Die Mutter scheint nur die Einschläge zu registrieren, die der Geliebte in ihrem Inneren mit seinem Schweigen hinterlässt. Es ist, als sei sie in einer leichten, feuer- und bombensicheren Rüstung durch die Kriegsjahre gegangen, in der Rüstung einer Leidenschaft, in der sie jenseits von Hunger und Todesangst vor allem zwei Gefühle kannte: ungeheures Glück, wenn der Geliebte ihr in seiner schwungvollen Schrift ein Zeichen der Ermutigung schickt; maßlose Verzweiflung, wenn er gar nicht oder abweisend antwortet. Gegen die Verzweiflung kennt sie nur ein Mittel: ihm schreiben und immer wieder schreiben.
    Tagelang, monatelang zehrt sie von den Erinnerungen an die letzte Begegnung mit ihm. Ich sehe sie nachts sitzen in einem der tagsüber überfüllten Zimmer, in dem sie mit ihren Kindern auf der Flucht Unterschlupf gefunden hat, in dem sich die Schwiegermutter,die kein Bedürfnis nach Intimität, nach Privatheit kennt, ungeniert vor ihren Augen wäscht. Die wenigen persönlichen Dinge, die sie mitgenommen hat, der kleine Spiegel, in den sie schaut, wenn sie ihre Lippen nachzieht, das Parfumfläschchen, das blaue Abendkleid, das sie wieder zusammengeflickt hat, die Silberschuhe aus Königsberg, die sie bei Premieren getragen hat, all diese Zeugen ihrer letzten Begegnung mit Andreas werden durch die Erinnerung an ihn lebendig, sie möchte sie streicheln, erwärmen, mit ihren Tränen beglänzen. Ihre Erinnerungen erscheinen ihr viel wirklicher als die Begegnung selbst.
    Jetzt wirst du mich fragen: Bitte, wo ist das Tröstliche? Und ich kann dir nicht antworten, zumindest heute nicht. Mag keine schönen Worte machen. Was ich aber allem schweren, hoffnungslosen Erleben immer und immer wieder entgegensetze, das ist unser Herz – dieses seltsame Werkzeug Gottes, dieses Zeugnis göttlicher Kraft, dieses wunderbare Bindeglied zwischen menschlichem Unvermögen und göttlicher Allmacht. Durch dieses Herz sind wir mehr als Menschen und auf geheimnisvolle Weise verbunden mit dem All, mit der Welt, mit der ewigen göttlichen Zeugungskraft.
    Und doch wird sie immer wieder von einer dunklen Verzweiflung ergriffen. Wozu dieses schwere Leben , ihr schweres Gewissen , fragt sie sich und ihn, wenn nicht am Ende die Erfüllung ihres einzigen Wunsches steht – für ihn, mit ihm zu leben ? Wozu alles Warten, alle Qual, wenn sie wie bisher immer nur am Rande steht?
    JedeBegegnung mit ihm erneuert und bestätigt ihr die Kraft ihrer Leidenschaft und die Forderung an sich selbst: immer mehr die zu werden, die er sich wünscht. Trüge sie die Voraussetzungen dazu nicht in sich, würde sie ihn nie begreifen, die Sehnsucht seines ruhelosen Herzens nie erahnen, wie auch er ihre Sehnsucht niemals hätte wecken können. Wie könnte sie denn da sein für ihn – so getrennt, so still und allein und doch erfüllt – wie ein Baum, der vom Winde gestreift wird –
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