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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter
Autoren: Peter Schneider
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vor seinem Zimmer, gab mir das Ding in die Hand und unterwies mich darin, mit einer Drehung an dem Rädchen die Schärfe einzustellen.
    Ich richtete das Gerät auf unser Haus. Es dauerte lange, bis ich, erschreckend nah, den Erker mit den sechsteiligen Fenstern im Fokus hatte. Aber schon bei der geringsten Bewegung am Rädchen verschwand das Bild wieder und ich sah nur noch eine geriffelte weiße Fläche mit riesengroßen schwarzen Flecken.
    Jetzt siehst du die Birke vor eurem Haus, erklärte Willi.
    Plötzlich drückte er meinen Kopf nach unten. Da sind sie!, flüsterte er. Ich legte das Gerät ab, weil ich nichts mehr sah, und lugte durch eine der herzförmigen Aussparungen in der Balkonbrüstung. Die Mutter verließ mit dem Besucher aus Berlin gerade das Haus. Die beiden liefen dicht unter uns vorbei, Richtung Kirche. Wir verfolgten ihren Weg, bis sie hinter der Kurve verschwanden. Sie würden schon wieder auftauchen, sagte Willi, und er wisse auch, wo.
    Wir vertrieben uns die Zeit, indem wir mit Willis Gerät andere, weit entfernte Ziele heranholten: das Zifferblatt der Kirchturmuhr, einen Heuschober hoch oben in den Hügeln, in dem sich, behauptete Willi, immer noch Gebirgsjäger versteckten, die Geröllschlucht zwischen den Waxensteinen, die jetzt von Schnee bedeckt war und in einem weißen S bis hinab zu den grünen Hügelnlief. Plötzlich stieß Willi einen Pfiff aus. Da, jetzt hab’ ich sie erwischt! Er erklärte, er habe meine Mutter und ihren Gast auf dem steilen Höhenweg entdeckt, der hinter der Kirche zur Neuneralm und weiter hinauf zum Bärenwald führte. Er berichtete mir, wann sie stehen blieben, wann sie sich auf eine Bank setzten, um Luft zu schnappen, wann sie wieder aufstanden und weiter in die Höhe stiegen. Und jetzt umarmen sie sich! Ich riss ihm das Gerät aus der Hand. Aber so wild ich auch an dem Rädchen drehte, ich konnte nur Hügel und Tannenwipfel erkennen. Willi zeigte mir noch einmal, wie die Schärfe einzustellen war, und wies mich an, das Rädchen dann auf keinen Fall mehr zu berühren. Zuerst sah ich nur beängstigend tiefe Risse in der grauen Felswand des Kleinen Waxensteins, den ich bisher für unzerstörbar gehalten hatte. Die Wand war plötzlich so nah, dass ich glaubte, ich könne sie mit der Hand berühren. Weiter unten, am Fuß der feuerroten Felswand, entdeckte ich zwei Punkte, die sich bewegten und, angestrahlt von der untergehenden Sonne, miteinander zu verschmelzen schienen. Es war, als würde die Sonne ihren Niedergang hinauszögern, um den Frevel der beiden für immer in die Wand zu brennen. Und ich fürchtete, nein, ich wünschte mir in diesem Augenblick, dass ein Felsschlag ihrem Treiben ein Ende setzen würde.

2
    Ich bin nicht sicher, ob ich dem Liebhaber meiner Mutter je begegnet bin. Aus den Briefen geht hervor, dass Andreas einer der Männer war, die uns in Grainau besuchten. Aber ich kann mich an kein Bild erinnern, das ich mir als Kind von ihm gemacht hätte. Hätte ich ihn für den Mann gehalten, den die Mutter dort, unter den Waxensteinen, umarmt hatte, hätte sich mir sein Gesicht eingeprägt. Aber vielleicht war die ganze Szene nur eine Phantasie, die ich mir mit Willis Gerät vor den Augen und dank seiner Einflüsterungen darüber, was ich sah, eingebildet hatte.
    Nach dem Tod der Mutter waren wir Geschwister zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammengewachsen. Vor allem die fromme, von uns allen heiß geliebte Oma, die Mutter des Vaters, die uns betreute, hatte zu der Vorstellung beigetragen, dass unsere Mutter eine Heilige gewesen war, die sich für ihre Kinder aufgeopfert hatte. Andererseits hörten wir schon früh, dass die Mutter ihrem Mann nicht immer treu gewesen, dass sie »fremdgegangen« war. Als wir älter waren, verdichtete sich das Gerücht dank einiger redefreudiger Bekannter und Verwandter zur Gewissheit, aber esbeschäftigte uns nicht besonders. Es fügte sich wie ein nachträglicher Eintrag in das feste Bild, das wir uns von der Mutter machten, und störte uns nicht. Die Mutter hatte uns durch den Krieg gebracht und war unerklärlich früh, wahrscheinlich an Unterernährung und physischer Erschöpfung, gestorben.
    So war es denn kein Schock für mich, die Geschichte mit dem fremden Mann, auf die Willi mich zuerst gestoßen hatte, mit den Worten meiner Mutter aus ihren Briefen zu erfahren. Was mir den Atem nahm, war die Wucht ihrer Leidenschaft und die Radikalität, mit der sie sich ihren Gefühlen stellte. Der Sohn, der diese Briefe
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