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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter
Autoren: Peter Schneider
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sie auf einen Zug wartet, spricht sie mit ihm, entwirft Briefe an ihn, sie korrigiert und feilt an ihren Sätzen.
    Es werden noch manche Kreuzwege kommen, und eines Tages werden wir fallen wie das Laub von den Bäumen, und ein Duft von Schwere und Süße wird zurückbleiben von denen, die liebten .
    Es sind Briefe, deren Feuer dem Sohn auch noch Jahrzehnte, nachdem sie aufs Papier geworfen wurden, die Hand versengt. Hier spricht eine Frau, die dem Geliebten alles, was sie zu geben hat, zu Füßen legt, sich ihm ausliefert, ihn mit der Bedingungslosigkeit ihrer Liebe überrennt, ja womöglich überfordert. Kein Mann auf der Welt, ruft er seiner Mutter zu, sollte solche Briefe bekommen, weil kein Mann auf der Welt einer solchen Hingabe gewachsen ist – er wird mit der ihm anvertrauten Macht nicht umzugehen wissen.
    Inden Wochen und Monaten des Wartens auf ein Zeichen des Geliebten quält sie sich mit Gedanken über die Antriebe ihrer Liebe und mit Zweifeln an deren Selbstlosigkeit.
    Ich lerne unterscheiden zwischen Trieb und Liebe, ich lerne klar erkennen, wie verlogen, unecht und belastend all die Begriffe von Liebe und Altruismus sind, wie sie verwässert wurden durch ein falsch verstandenes Christentum. Wenn man genau hinsieht, muß wie der Punkt auf das i nach jeder »Liebestat« der »Dank« folgen, weil man sich erstens wohl fühlt und sich damit den Anderen so gut unterwerfen und ihm seine Weltanschauung besser aufdrängen kann. Kann ich selbst denn den Anspruch, den dieses große Wort »Liebe« stellt, erfüllen? Und ich versuche, mit mir selbst ehrlich zu sein und klar, glaub es mir. Soll ich dir zeigen, was dabei herauskommt? Laß es mich unverfänglich sagen, es ist leider ein Geständnis. Ich liebe einen Mann, einen außergewöhnlichen, bunt schillernden, klugen, tyrannischen, unzuverlässigen, triebhaften Mann. Einen mit tausend Eigenschaften und keiner, die man festhalten kann. Komm – ich weiß es nicht im einzelnen, was ich an ihm liebe! Es ist wohl die Summe dieser menschlichen Existenz, die in mir ein großes, noch nie erlebtes Gefühl wachruft. Und wenn ich versuche, dieses Gefühl, das nun drei Jahre in mir lebt, tobt, seufzt und leidet, einmal kühl zu betrachten, es zu zerlegen, was sehe ich dann? Einmal, daß ein wesentlicher Bestandteil Trieb ist, elementarer, aufgebrochener, undifferenzierter Trieb, der sich einmalig an diese Existenz gebunden fühlt – und parallel laufend mit ihm ein Gefühl des Besitzen-Wollens, ein ganz kindliches, naturhaftes »Haben-Wollen«, ein »Glücklich-sein-Wollen«, also alles Dinge,die ich zu meiner eigenen Erfüllung ersehne. Wo ist denn das, was man Liebe nennt, d. h. das Gefühl, das leidenschaftlich, unerbittlich das Glück des Anderen will? O, es ist auch da. Steht hart neben der Eigenliebe, und die Entscheidung, ob das eine oder das andere mehr geliebt wird, steht noch bevor.
    Hat sie ihre Briefe überhaupt abgeschickt? Wahrscheinlich nur einen Teil von ihnen. Immer wieder wirft sie Briefanfänge auf ein Stück Papier, Notizen, Gedanken und Empfindungen. Hin und wieder sind ihre Entwürfe auf der Rückseite mit Notizen von Heinrichs Mutter beschriftet, bei der sie in den ersten Jahren nach der Hochzeit wohnt. Papier war rar in den Kriegsjahren, fast ein Luxusgut. Wahrscheinlich hat die Schwiegermutter das doppelseitig genutzte Papier zuerst beschrieben – und ihre schreibbesessene Schwiegertochter, die ständig Papier brauchte, hat dann danach gegriffen. Möglich ist aber auch, dass die Schwiegermutter die nicht abgeschickten Briefentwürfe ihrer Schwiegertochter auf dem Tisch gefunden, wahrscheinlich auch gelesen und ihre Rückseiten ungerührt als Einkaufszettel benutzt hat. Da die Mutter ohnehin nichts von Heimlichkeiten hielt, wird sie sich nicht viel Mühe gegeben haben, ihre Zettel zu verstecken.
    Diese Vermutungen erklären jedoch nicht, warum nicht nur die Briefentwürfe, sondern auch die eindeutig abgeschickten Briefe der Mutter nach ihrem Tod in Heinrichs Besitz gelangten. Für den Briefwechsel zwischen Heinrich und seiner Frau bietet sich eine einfacheAntwort an. Ab dem Herbst 1944 verabreden sie, ihre Briefe mehrmals zu kopieren. Auf die deutsche Post, die bis dahin fast wie in Friedenszeiten funktioniert hat, ist nun kein Verlass mehr. Viele Bahnstrecken sind zerbombt und nicht mehr passierbar. Die Züge, die noch fahren, haben – wie Heinrich einmal schreibt – Wichtigeres zu tun, als Briefe und Pakete zu transportieren: nämlich
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