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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter
Autoren: Peter Schneider
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leise, zärtlich, leidenschaftlich, kühl und eisig – immer bereit, den Vorübergehenden zu empfangen und ihn wieder zu entlassen ins Fremde, ins Weite . Wie könnte sie dies alles wollen und empfinden ohne das Wissen um die innersten Forderungen seiner Natur, die geliebt werden will, aber nicht festgehalten ?
    Sie redet ihm die Zweifel aus, die ihn über sich und seine Liebe zu ihr befallen, tröstet ihn über die Schwankungen seiner Natur, über dieses Nicht-stabil-sein-Können , mit dem er alle, auch seine Mitarbeiter und seine Frau, verrückt macht. Gerade diese Isolierschicht, die Kälte, hinter der er sich verbirgt, ruft ihre tiefste Liebesfähigkeit wach, seine Schwächen rühren ihr Herz weit mehr als der Glanz, der um ihn ist. Mit ihr wird er imstande sein, den Schleier von Einsamkeit, der beständig um ihn ist, zu zerreißen. Alles, was er dazu braucht, ist ein klares festes Gefühl von Beheimatetsein in einer anderen Seele .
    Wenn er ihr doch sagen würde, dass er dies wirklich will, wenn er diese Erkenntnis endlich bei sich zulassenwürde – es wäre die einzige Antwort, die sie von ihm ersehnt. Mehr verlangt sie nicht, mehr braucht sie nicht, um ihre Liebeskräfte für ihn zu entfalten.
    Du bist nicht allein. Und wenn du deinen Atem auf kalten, unbarmherzigen Stein hauchtest, ich nähme ihn auf, lebendig und blutwarm – mein Herz wünscht sich nur, daß du in ihm eine Heimat fändest, so wie in einem guten stillen Haus, das immer da ist, ruhend und wartend – ohne Vorwurf und ohne Last für den, der es verläßt, schützend und wärmend für den, der wiederkommt.
    Aber da wirkt noch ein anderer Stachel in ihrer Liebe zu Andreas. Ein Aufbegehren gegen ihren Vater, gegen die Ablehnung, die sie durch ihn, den Juristen und Reichstagsabgeordneten der Deutschnationalen Volkspartei, erfahren hat. Vergeblich hatte sie den lieben Papa um Verständnis für ihre Heirat mit Heinrich, dem vier Jahre jüngeren und mittellosen Musikus, angefleht. Da sie vor der Hochzeit schwanger wurde, hatte sie den Witwer gefragt – seine Frau war zwei Jahre zuvor an einer Lungenkrankheit gestorben –, ob sie bei ihm wohnen dürfte, bis Heinrich so weit wäre, einen eigenen Hausstand zu gründen. Aber der Alte , wie sie ihn später nennt, hatte sie wohl vor dieser Heirat und dem damit verbundenen sozialen Abstieg gewarnt, er hatte ihren Wunsch abgelehnt. Vergeblich hatte sie versucht, die Anerkennung ihres Vaters für ihre schnell wachsende Familie zu gewinnen. Und hatte sich dann doch, in den Momenten der Überforderung und der Schwäche, gegenden Gedanken wehren müssen, dass der Vater sie zu Recht gewarnt hatte.
    Manchmal verflucht sie ihr Mutterschicksal und überlegt, ob es nicht ein Fehler war, vier Kinder in die Welt zu setzen. Das hätte er doch wissen müssen, schreibt sie an Heinrich, dass vier Kinder einfach zu viel für sie sind. Inständig hofft sie, dass wenigstens eines ihrer Kinder ihre Sehnsucht nach dem Schreiben geerbt habe. Das wäre immerhin eine Entschädigung für das Opfer, das sie mit ihrer Bescheidung auf die Mutterrolle gebracht hat.
    Denn sie möchte schreiben – und sie schreibt seit ihrer Jugend heimlich Gedichte und Erzählungen. Sie möchte den Geliebten mit ihren Briefen und ihren Formulierungen inspirieren, mit ihm zusammenarbeiten. Sie erzählt ihm von ihrem frühen Wunsch, Schauspielerin zu werden. Sie wollte immer zur Bühne gehen, um Shakespeares »Julia« und Kleists »Käthchen von Heilbronn« spielen zu können. Und fragt sich und ihn im gleichen Atemzug, ob dies Geständnis ihrer Vorliebe für solche naiven, geradlinigen Frauenfiguren klug ist:
    Ich bin nun einmal nicht raffiniert, und du liebst die Raffinierten, also fehlt mir etwas.
    Der Geliebte nimmt ihr Angebot zur Mitarbeit gnädig auf. Sie soll ihm Material für das Stück besorgen, das er gerade inszeniert.
    Schön wäre eine Parallele aus den Freiheitskriegen, vielleicht das eine oder andere Gedicht. Du wirst schon selbst auf ein paar brauchbareGedanken kommen. Das kann ganz persönlich sein. Wie du eben über diese Fragen denkst.
    Allerdings möchte er keinesfalls, dass sie dafür ihre Nächte opfert.
    Von Anfang an haftet der Liebe der Mutter zu Andreas eine Schwermut an, eine Vorahnung der Vergeblichkeit und des Endes. Um der Macht dieses Gefühls Herr zu werden, sucht sie es in Bildern von dunkler Schönheit zu bannen. Wenn sie über einer Näharbeit sitzt, wenn sie in der Schlange vor dem Lebensmittelladen steht, wenn
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