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Die Galerie der Nachtigallen

Die Galerie der Nachtigallen

Titel: Die Galerie der Nachtigallen
Autoren: Paul Harding
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    Einleitung
    Der alte König
lag im Sterben. Der Wind wehte das Gerücht die Themse
hinunter. Bootsleute sprachen flüsternd davon, und die
bauchigen, seetüchtigen Frachtkähne trugen die Kunde die
Küste entlang. Edward schwand dahin; der große, blonde
Eroberer Frankreichs, der neue Alexander des Westens, starb. Zu
spät für diejenigen, die sein Mißfallen erregt
hatten; ihre struppigen, blutverkrusteten Köpfe staken auf der
London Bridge, und während die Raben nach saftigeren Happen
wühlten, wurden die marmorbleichen Wangen schwarz.
    Der große
König - oder der große Halunke, das war Ansichtssache -
wollte den Geist aus seinem betagten, stinkenden Körper nicht
entweichen lassen. Der Hof war im Frühsommer 1377 nach
Richmond gezogen, als der Wind nach Südwesten drehte und
heftig und heiß von den trockenen Wüsten um das
Mittelmeer heraufwehte. Die Pest war nach London gekommen;
Männer und Frauen waren niedergesunken mitgeschwollenen
Lymphknoten und aufgeblähten Bäuchen, und sie hatten ihr
Lebensblut ausgespuckt. Der König bekam es mit der Angst, als
der Tod sich wie ein Meuchelmörder an seinen Hof
schlich.
    Edward begegnete ihm
mutig. Er versuchte, sein fahlgelbes Gesicht anzumalen und hielt
den Mund geschlossen, um seine zerbröckelnden schwarzen
Zähne zu verbergen. Er kleidete sich in silbernen und
weißen Taft, mit Gold bestickt, und frisierte sein
früher hellblondes Haar, obwohl es ihm in zottigen,
verschwitzten Strähnen auf die knochigen Schultern hing. Aber
der Tod ließ sich nicht beschwichtigen. Hitze und üble
Dünste vom Fluß umfingen seinen verfallenden
Körper, und noch immer wollte der König nicht aufgeben.
Hatte er nicht bei Crecy und Poitiers die Armeen Frankreichs
zerschlagen? Ihren König gefangengenommen und hinter sich
reiten lassen, als er, einem neuen Cäsar gleich, nach London
zurückgekehrt war, um sich im Glanz seiner Heldentaten zu
sonnen?
    Edward saß auf
Kissen in einem seiner großen Privatgemächer und nahm
weder Essen noch Arznei zu sich. Ein Priester kam, huschte an der
Wand entlang wie eine kleine schwarze Spinne, ein Tröster
Hiobs, wenn es je einen gab. »Euer Gnaden«,
drängte er beharrlich, »Ihr müßt ins
Bett.« Edward fuhr herum wie ein alter Fuchs, die von einem
Schlaganfall verzerrten Lippen unwillig gekräuselt.
»Verschwinde, kleiner Mann«, zischte er. »Der Tod
wird mich niemals holen!«
    Er blieb, wo er war,
und starrte auf seinen Finger, wo der Krönungsring, der sich
einst so tief in sein Fleisch gegraben hatte, kürzlich
durchgesägt worden war. Seine Ehe mit dem Königreich war
vorbei. Fünfzig Jahre lang hatte er das Zepter getragen und
mußte es nun einem anderen übergeben. Er schüttelte
den Kopf und schaute auf seine Hände. Ringe aus Feuer schienen
sie zu umkreisen. Der Tod schlurfte auf leisen Sohlen näher.
Tapfer hielt Edward stand, wie er es dreißigjahre zuvor bei
Crecy getan. Er lächelte, als er sich erinnerte, wie seine
Hauptleute »Los!« gebrüllt und seine
Bogenschützen den lebendigen Tod in schwarzen Wolken gegen die
vorrückenden Horden der Franzosen gesandt hatten. Er
würde stehen, wie er es damals getan hatte. Der Tod würde
ihn nicht holen, solange er stand. Das tat er fünfzehn Stunden
lang, bevor er auf den kissenübersäten Boden sank, die
Finger vor dem Mund zur Faust geballt. Die Priester trugen ihn zu
seinem Bett.
    Hysterie erfaßte
den Hof, und die Luft war schwer von Düsternis und Entsetzen.
Die goldblinkenden Höflinge tuschelten über Zeichen und
Erscheinungen; die Wasser der Themse waren gestiegen, in Greenwich
über ihre Ufer getreten und hatten den Palast überflutet.
Ein mächtiger grauer Fisch, groß wie die Leviathan, war
im Norden an den Strand gespült worden. Der Himmel färbte
sich am Mittag rot, und seltsame Kreaturen wurden in den dunklen
Wäldern des Nordens gesichtet. Man hörte Stimmen im
Schatten der Straßen, und Trompeten schmetterten von den
Bastionen des Towers in London und von Windsor Castle. Eine der
Hofdamen fand eine Tarockkarte mit der schwarzen Gestalt des Todes
an einen königlichen Stuhl genagelt. Eine andere erblickte den
Geist der Macht des sterbenden Königs in Gestalt eines
mystischen Ritters, der durch die mondhelle Galerie zog, die Treppe
hinunter und zum Portal des großen Palastes.
    Edward III., der
Löwe von England, lag im Sterben. Alte Männer erinnerten
sich an die Erzählungen ihrer Großeltern: Wie der
Löwe in seiner Jugend seiner Mutter Isabella und
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