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Wenn nur noch Asche bleibt

Wenn nur noch Asche bleibt

Titel: Wenn nur noch Asche bleibt
Autoren: Britta Strauss
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Prolog
Yucatán/Mexiko, Juni 1802
    I
m Licht der Abendsonne kroch eine gewaltige Schlange über die Stufen der Pyramide. Träge schlängelte sie sich vorwärts, berührte den von Schlingpflanzen überwucherten Boden und schien mit ihm zu verschmelzen. Ihr dunkler, gewundener Leib verharrte auf den Stufen, bis der sich verändernde Sonnenstand das Trugbild langsam auflöste.
    Greg verschlug es den Atem. Durch die geschickte Ausrichtung der Stufen zum Sonnenuntergang und durch das Schattenspiel der architektonischen Details war der Körper der Schlange für Momente von einem gezackten Muster überzogen. So lebendig, dass es ihn nicht verwundert hätte, von diesem Geschöpf angegriffen und verschlungen zu werden.
    Die Sonne sank tiefer, das Schattenmonster verschwand. Insektenschwärme tanzten im rotgoldenen Licht. Papageien glitten durch die nach Orchideen duftende Abenddämmerung, um ihre Plätze hoch oben auf den Schlafbäumen einzunehmen. Die Dunkelheit kam in der Nähe des Äquators mit der heimlichen Schnelligkeit einer Jägerin und erschuf im letzten Licht einen Augenblick trügerischen Friedens, in dem nur das ferne Brüllen eines Jaguars davon kündete, dass die Nacht in erster Linie eines mit sich brachte: den Tod.
    Unbeirrt stieg Greg die Stufen hinauf. Unter den Mühlen der Zeit und dem Würgegriff des Dschungels hatte der Stein schwer gelitten. Risse und Spalten durchzogen ihn, hier und da bröckelte es unter den Schuhen. Greg kletterte furchtlos höher. Er hatte ohne Hilfe mehr als dreihundert Meilen unwirtlicher Wildnis bewältigt und würde auch das Ende des Weges erreichen. Eine unerschütterliche Überzeugung erfüllte ihn, wie sie nur ein Mann empfinden kann, der weiß, dass er seinem Schicksal folgt.
    Der Aufstieg war mühsam, weitaus anstrengender, als er gedacht hatte. Die wochenlange Wanderung durch Yucatáns Steppen, Savannen und Regenwälder forderte ihren Tribut. Manche hatten behauptet, mit seinen zweiundsechzig Jahren sei er zu alt für solche Abenteuer, doch am Ende hatte von der ehemals sechsköpfigen Truppe nur einer durchgehalten – er selbst. Sämtliche jungen Großmäuler waren spätestens im Regenwald gescheitert. An der Hitze, der Luftfeuchtigkeit, den allgegenwärtigen riesigen Insekten oder, wie der unglückliche Jeffrey, am Biss einer Schlange.
    Gregs Atem ging keuchend, als er endlich die letzte Stufe erklomm. Ein Steinquader thronte auf der stumpfen Spitze des Bauwerks, mit einem Eingang, hinter dem eine Treppe in die Eingeweide des Relikts hinabführte. Schlingpflanzen hingen wie tropfende Vorhänge herab, doch das Antlitz Kukulkans, des Gottes der vier Elemente, hatten sie nicht gänzlich überwuchern können. Wie ein Versprechen für unsägliche Qualen, die der Eindringling erleiden würde, blickte er drohend vom oberen Rand des Eingangs auf Greg herab. Flankiert wurde er von den vier Symbolen für die Elemente. Auf der rechten Seite standen der Geier und die Eidechse, symbolisch für Luft und Feuer. Auf der linken der Maiskolben für die Erde und der Fisch für das Wasser. Die Mythologie der Maya besagte, Kukulkan ruhe in den Tiefen des Ozeans, bis ein gewaltiges Feuer die Erde verschlinge. Erst wenn die Menschheit sterbe, um etwas Besserem und Reinerem zu weichen, würde er zurückkehren.
    Greg erlaubte sich einen Moment des Innehaltens und drängte seine Ungeduld zurück. Der Anblick des Gottes jagte ihm urtümliche Furcht ein. Man hatte Kukulkan im Profil abgebildet und seine hakenförmige Nase nebst den aufgeworfenen Lippen und den Reptilienaugen verliehen ihm einen Ausdruck gnadenloser Grausamkeit. Auf seinem Kopf thronte eine gefiederte Schlange mit menschlich anmutendem Antlitz. Komplizierte Schnörkel und Muster umrahmten den Kopf des Gottes, die teilweise wie Pflanzen, teilweise wie Tiere wirkten, und aus diesem Wust aus Symbolen ragte eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger. Obwohl Kukulkans Blick und seine Geste zur Seite gerichtet waren, beschlich Greg das Gefühl, der Gott wüsste um seine Anwesenheit und vermittelte ihm, dass keine Sünde ungesehen blieb.
    Entschlossen schüttelte Greg die Angst ab. Mit dem Gefühl einer düsteren Präsenz im Nacken zündete er die Argand-Lampe an, wischte Schlingpflanzen beiseite und stieg in die Tiefe. Modriger Atem wehte ihm entgegen. Der Schein der Flamme tanzte über Wände, deren quaderförmige Steine so perfekt aneinandergefügt waren, dass kein noch so dünnes Blatt Papier dazwischengepasst hätte. Tiefer und tiefer
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