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Wenn nur noch Asche bleibt

Wenn nur noch Asche bleibt

Titel: Wenn nur noch Asche bleibt
Autoren: Britta Strauss
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Hunger nach der Erfüllung eines fast verloren geglaubten Traumes.
    Vorsichtig näherte er sich dem Obsidianquader. Es war sehr wahrscheinlich, dass man dieses Gewölbe mit Fallen gespickt hatte, doch Greg entdeckte nichts Verdächtiges. Obwohl Ungeduld ihn zu gefährlicher Hast antreiben wollte, vollführte er jede Bewegung mit Behutsamkeit. Der Kristall musste sich im Inneren des Quaders befinden. Daran bestand kein Zweifel. Doch jetzt, wo er vor dem Objekt stand, stellte sich ihm ein weiteres Problem in den Weg: Nirgendwo gab es ein Schloss oder eine Öffnung. Nicht einmal eine Spalte war auszumachen. Auf jeder Seite zeigte sich der schwarze Spiegel des Gesteinsglases makellos. Greg erinnerte sich an die Inschrift, die er vor Jahrzehnten auf einem Relief tief im Dschungel von Yukatán gefunden hatte.
    Nur denen gibt der Kristall seine Kraft, die würdig sind, sein Herz zu berühren
.
    Sie war seine göttliche Berührung gewesen. Sein Prometheusfunken, der das Feuer der Leidenschaft entfachte. Dem Glauben der Maya nach lag im Blut der Sitz der Seele, also war das vielleicht der Schlüssel.
    Greg zückte sein Taschenmesser, bohrte die Spitze in seine Handfläche und ließ das Blut auf den Obsidian tropfen. Das Muster glänzender Tropfen auf dem schwarzen Spiegel besaß eine unheimliche, machtvolle Schönheit. Er war sicher, dass etwas geschehen musste, doch so lange er auch wartete, es tat sich nichts. Alles blieb reglos und still. Das Blut trocknete, Enttäuschung übermannte ihn. Aber nein! Greg stutzte und beugte sich vor. Es trocknete nicht. Vielmehr schien der Stein es aufzusaugen.
    Konnte es sein? Hatte er doch die Lösung gefunden?
    Ein leises, gleitendes Geräusch erklang. Auf der Oberfläche des Quaders bewegte sich etwas. Langsam schob sich aus dem Objekt ein zweiter Quader hervor, kleiner als der erste und auf der vorderen Seite offen. Licht flutete die Kammer, das von einem etwa armlangen Kristall ausströmte. Nach und nach zeigte er sich in all seiner Schönheit. Greg schwindelte vor Entzückung. Er existierte! Der Himmelskristall war kein Märchen, sondern Wirklichkeit. So, wie er es seit Jahrzehnten vermutet hatte. All die Spottreden, die Zweifel und der Zorn der vergangenen Jahre, verschwanden in Bedeutungslosigkeit. Sein Schicksal erfüllte sich.
    Endlich!
    Von einer überirdischen Kraft gehalten, schwebte das Relikt in seinem Käfig aus Gesteinsglas, leise summend und vibrierend, nicht geschaffen von Menschenhand. Greg wollte darauf zugehen, wollte den Kristall berühren, um seine Macht in sich aufzunehmen, doch plötzlich ließ ihn eine Bewegung herumfahren.
    Ein Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Unmöglich, schrie sein Verstand. Es kann nicht sein! Unmöglich!
    Die Mumie bewegte sich, streckte ihre staubigen Glieder und glotzte ihn aus leeren Augenhöhlen an. Spöttisch wippten die schillernden Federn des Kopfputzes in einem Windzug, der durch den Treppengang in das Gewölbe wehte. Langsam bückte sich das Monster, nahm den Speer auf, der neben ihm an der Wand gelehnt hatte, und tat einen tiefen, rasselnden Atemzug. Greg hörte, wie die ausgetrockneten Lungen sich knisternd ausdehnten.
    Lichtfinger strömten aus dem Kristall hervor, glitten auf die Mumie zu und hüllten sie in einen pulsierenden Halo. Zur Salzsäule gefroren sah Greg, wie die ausgedörrte Haut des Wesens zu neuer Frische erblühte und den Ton heller Bronze annahm. Augen wuchsen in den leeren Höhlen, verschrumpeltes Fleisch straffte sich. Binnen weniger Augenblicke floss blauschwarzes Haar über kräftige, breite Schultern. Muskeln traten hervor, tiefdunkle Augen funkelten ihn an.
    Vor ihm stand ein Krieger. Jung, stark und prachtvoll. Mit katzenhafter Anmut umkreiste er Greg, präsentierte ein grausames Lächeln, in dem sich Stolz mit Furchtlosigkeit und einem gewaltigen Schmerz vereinte.
    Er hörte den Mann Worte murmeln. Finstere, uralte Klänge, machtvoll vibrierend wie der Atem der Pyramide. Es handelte sich um einen längst ausgestorbenen Maya-Dialekt aus einer Epoche, die weit vor der Blütezeit dieses Volkes lag.
    Wie ferngesteuert zog Greg die Pistole aus dem Halfter und schoss dem Mann in die Brust. Der Krieger taumelte keuchend zurück. Er prallte gegen die Wand, stieß einen Laut der Verblüffung aus und sackte in die Knie. Ungläubig betasteten seine Finger das Loch. Es lag genau über seinem Herzen.
    Als der Mann zur Seite sackte und starb, durchzuckte Greg ein Gefühl des Bedauerns. Er hatte ein Wunder getötet.
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