Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo

Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo

Titel: Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo
Autoren: Christiane F.
Vom Netzwerk:
Es war wahnsinnig aufregend. Meine Mutter packte tagelang Koffer und Kisten. Ich begriff, dass für uns ein neues Leben anfing.
    Ich war sechs geworden und nach dem Umzug sollte ich zur Schule gehen. Während meine Mutter pausenlos packte und immer nervöser wurde, war ich fast den ganzen Tag beim Bauern Völkel. Ich wartete, dass die Kühe zum Melken in den Stall kamen. Ich fütterte die Sauen und die Hühner und tobte mit den anderen im Heu. Oder ich trug die jungen Katzen herum. Es war ein herrlicher Sommer, der erste, den ich bewusst erlebte.
    Ich wusste, dass wir bald weit wegfuhren, in eine große Stadt, die Berlin hieß. Zuerst flog meine Mutter allein nach Berlin. Sie wollte sich schon mal um die Wohnung kümmern. Meine kleine Schwester und ich und mein Vater kamen ein paar Wochen später nach. Für uns Kinder war das unser erster Flug. Alles war ungeheuer spannend.
    Meine Eltern hatten herrliche Geschichten erzählt von der riesigen Wohnung mit den sechs großen Zimmern, in der wir nun wohnen würden. Und viel Geld wollten sie verdienen. Meine Mutter sagte, dann hätten wir ein großes Zimmer für uns ganz allein. Sie wollten tolle Möbel kaufen. Sie hat damals ganz genau erklärt, wie unser Zimmer aussehen sollte. Ich weiß das noch, weil ich als Kind nie aufgehört habe, mir dieses Zimmer vorzustellen. Es wurde in meiner Fantasie immer schöner, je älter ich wurde.
    Wie die Wohnung aussah, in die wir dann kamen, habe ich auch nie vergessen. Wahrscheinlich, weil ich zunächst einen urischen Horror vor dieser Wohnung hatte. Sie war so groß und leer, dass ich Angst hatte, mich zu verlaufen. Wenn man laut sprach, hallte es unheimlich.
    Nur in drei Zimmern standen ein paar Möbel. Im Kinderzimmer waren zwei Betten und ein alter Küchenschrank mit unseren Spielsachen. Im zweiten Zimmer war ein Bett für meine Eltern und im größten standen eine alte Couch und ein paar Stühle. So wohnten wir in Berlin-Kreuzberg, am Paul-Lincke-Ufer.
    Nach ein paar Tagen traute ich mich mit dem Fahrrad allein auf die Straße, weil da Kinder spielten, die etwas älter waren als ich. In unserem Dorf hatten die Älteren immer auch mit den Kleinen gespielt und auf sie aufgepasst. Die Kinder vor unserer Wohnung sagten gleich: »Was will die denn hier?« Dann nahmen sie mir das Fahrrad weg. Als ich es zurückbekam, war ein Reifen platt und ein Schutzblech verbogen.
    Mein Vater vertrimmte mich, weil das Fahrrad kaputt war. Ich bin dann nur noch in unseren sechs Zimmern mit dem Fahrrad gefahren.
    Drei Zimmer sollten eigentlich Büro werden. Meine Eltern wollten da eine Heiratsvermittlung aufmachen. Aber die Schreibtische und Sessel, von denen meine Eltern sprachen, kamen nie. Der Küchenschrank blieb im Kinderzimmer.
    Eines Tages wurden Sofa, Betten und Küchenschrank auf ein Lastauto geladen und dann zu einem Hochhaus in der Gropiusstadt gebracht. Da hatten wir nun zweieinhalb kleine Zimmer im 11. Stock. Und all die schönen Sachen, von denen meine Mutter gesprochen hatte, wären in das halbe Kinderzimmer gar nicht reingegangen.
    Gropiusstadt, das sind Hochhäuser für 45000 Menschen, dazwischen Rasen und Einkaufszentren. Von weitem sah alles neu und sehr gepflegt aus. Doch wenn man zwischen den Hochhäusern war, stank es überall nach Pisse und Kacke. Das kam von den vielen Hunden und den vielen Kindern, die in Gropiusstadt leben. Am meisten stank es im Treppenhaus.
    Meine Eltern schimpften auf die Proletenkinder, die das Treppenhaus verunreinigten. Aber die Proletenkinder konnten meist nichts dafür. Das merkte ich schon, als ich das erste Mal draußen spielte und plötzlich musste. Bis endlich der Fahrstuhl kam und ich im 11. Stockwerk war, hatte ich in die Hose gemacht. Mein Vater verprügelte mich. Als ich es ein paarmal nicht geschafft hatte, von unten rechtzeitig in unser Badezimmer zu kommen, und Prügel bekam, hockte ich mich auch irgendwo hin, wo mich niemand sah. Da man aus den Hochhäusern fast in jede Ecke sehen kann, war das Treppenhaus der sicherste Platz.
    Auf der Straße blieb ich auch in Gropiusstadt erst mal das dumme Kind vom Land. Ich hatte nicht dieselben Spielsachen wie die anderen. Nicht einmal eine Wasserpistole. Ich war anders angezogen. Ich sprach anders. Und ich kannte die Spiele nicht, die sie da spielten. Ich mochte sie auch nicht. In unserem Dorf waren wir oft mit dem Fahrrad in den Wald gefahren, zu einem Bach mit einer Brücke. Da hatten wir Dämme gebaut und Wasserburgen. Manchmal alle zusammen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher