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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter
Autoren: Peter Schneider
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dass die Liebe in ihr absterbe – wegen aller Belastungen. Was es mit ihren ständigen Krankheiten auf sich habe, ob es wirklich organische Krankheiten seien oder etwas anderes. – Ja, ihre Kraft lasse nach, erwidert die Mutter, sie verbrauche sich an der Mühseligkeit der Tage. Das spüre sie besonders schmerzlich an ihrem Verhalten gegenüber ihren Kindern.
    Es gibt Tage solcher Apathie, daß ich gar nichts empfinde. Manchmal weiß ich nicht, ob nicht eine dunkle Schwermut als Krankheitsbild in mir liegt und mich einmal ganz überschatten wird. Und manchmal denke ich natürlich auch: Das hätte mein Mann wissen müssen, daß vier Kinder zu viel für mich sind. Diese Erschöpfungen sind viel schlimmer als Krankheiten. Krankheit ist Kampf. Da wehrt sich etwas in einem! Aber dieser Zustand ist völliges Leersein – Aufgezehrtsein aller positiven Lebenskräfte, und die zerstörenden stürzen, da kein Widerstand mehrda ist, über einen her wie Ungeziefer, und alles ist gefährdet, vor allem die Fähigkeit zum Lieben erstrahlt dann nirgends mehr – und das ist für eine Natur wie die meine der Tod, der nichts mehr bewegen und verwandeln kann und deshalb viel grausamer ist als der physische Tod. Aus Furcht vor ihm – vor dieser Zersetzung der seelischen Substanz – entsteht dann wohl immer wieder die Flucht in die Krankheit, d. h. in die Rettung, weil sich in ihr der seelische Raum wieder anfüllt.
    Sie wisse sehr wohl, dass ihr Los kein Einzelschicksal sei, sondern Teil eines Gesamtschicksals – das Schicksal vieler Frauen, die ihre Kinder allein durch den Krieg hatten bringen müssen. Aber das letzte Jahr sei für sie einfach zu schwer gewesen, teils durch ihr vieles Kranksein, teils durch die zerbrochenen persönlichen Begegnungen.
    Ja, lieber Heinrich, so scheint mir, trotz Anthroposophie und allem anderen – daß wir nicht sieghaft sind gegen die zerstörenden Kräfte der Zeit. Ich komme nach Hannover – zu dir komme ich. Du hast mein ganzes, großes Vertrauen – als einziger Mensch.
    Und eine Woche später:
    Ich dachte, du rufst heute mal an. Es sind entsetzliche Tage – weiß nicht, wie ich das überstehen soll. Esse schon seit Tagen kaum, denn ich muß mir die Kräfte nehmen, um damit auch die zerstörenden abzuschwächen. Nun bin ich matt, liege herum – allein, allein, es ist nicht mehr auszuhalten. Ich bin wohl krank, ich meine psychisch krank. Sobald diese Erschöpfungen eintreten, gewinnt das Kranke in mir die Oberhand, ich entgleite mir vollkommen. Daß niemand begreift, daß man sich in solchen Zeiten nichtmit mir »auseinandersetzen« kann, daß man uns nicht Ratschläge geben und uns Vorwürfe machen kann! Das macht alles nur viel, viel schlimmer. Daneben stehen und mich streicheln – das ist das einzige, was hilft.
    Daneben stehen und mich streicheln, das ist das Einzige, was hilft. – Ich hatte in den Jahren der Entzifferungsarbeit viele Sätze der Mutter gelesen, die mich berührten, mich überraschten oder auch empörten, die mich übergangslos zwischen Stolz und Trauer hin und her gerissen haben. Mit diesem Satz war es anders. Er zerschmolz den Abstand zwischen der Zeit, da er geschrieben wurde, und der Zeit, da ich ihn las. Er sprach zu mir, als hätte ihn die Mutter, neben mir auf dem Sofa in meinem Studio kauernd, in diesem Augenblick gesagt.
    Wir Kinder, jedenfalls die drei älteren, standen damals nicht neben ihr, um sie zu streicheln. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, dass ich die Mutter jemals so kraftlos und apathisch, wie sie es beschreibt, auf dem Sofa in der Veranda wahrgenommen habe. Und doch muss ich sie in diesem Zustand, aus dem sie bis zu ihrer letzten Reise nicht mehr herausfand, Tag für Tag gesehen haben. Hat sie mich zu sich gerufen? Habe ich, haben wir ihren Ruf gehört und sind wir ihm gefolgt? Am ehesten wohl Paul, der Jüngste, der nicht unter Willis Bann stand und in den letzten Monaten und Wochen der Mutter ihr Liebling wird. Hanna und mich will sie, wie sie es schon Jahre vorher mit demÄltesten getan hat, in ein Internat schicken, fort aus dem Haus, fort aus ihren Augen.
    Ich möchte nicht nach Hannover kommen , schreibt sie in ihrem letzten Brief.
    Würde dich nur in der Arbeit stören. Es ist zu dunkel um mich, wüßte nicht, was mir dort helfen könnte. Ich kann dort auch nicht ins Theater gehen, Menschen sehen und sprechen – was willst du also mit mir? Laß mich hier, bis sich das einmal entscheidet, und ich es schaffe oder nicht.

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    Mein
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