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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter
Autoren: Peter Schneider
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Gamshüten, Wanderstiefeln und Wanderstöcken wie Einheimische aus. In mir, der ihnen in einem schwarzen Leinen-Anzug, ohne Hut und Stock entgegenkam, mussten sie einen ahnungslosen Fremden sehen.
    Ein leiser Nieselregen hatte eingesetzt. Ich beschleunigte meinen Schritt, aber nicht, weil ich zum Hotel zurückwollte. Ich lief in die Gegenrichtung und war erst am Anfang meines Rundgangs.
    Durch das schnelle Gehen veränderte das steil ansteigende Ufer an meiner Seite seine Gestalt. Die Konturen verloren ihre Genauigkeit und näherten sich dem Bild an, das in meinem Inneren aufbewahrt war. Die übermoosten,manchmal fast weißen Felsstücke am Wegrand, die überwachsenen Baumstümpfe, die wie grüne Monster in Hockstellung am Wegrand lauerten, schienen nur auf ein Zeichen zu warten, um sich zu bewegen. Höher hinauf türmten sich die großen Felsentrümmer, die wahrscheinlich seit Jahrtausenden dort standen, aber auf mich immer noch so wirkten, als könnten sie jeden Augenblick herunterstürzen. Unter ihnen hatten wir als Kinder Füchse, Munition und Tote gesucht. Und plötzlich klickten weit auseinanderliegende Szenen, Schmerzen und Erregungen ineinander. Wie oft war ich ziellos und fast blind durch diese und andere Wälder gerannt, gehetzt durch einen Schmerz, der sich nur durch besinnungsloses Rennen beruhigen ließ? Als ob ich nur durch Atemlosigkeit zu einem freien Atmen kommen könnte. Woher rührte dieser Riss, der plötzlich, ohne Vorwarnung, meine Anstrengungen, meine Vorhaben, meine Lieben in Nichts auflöste und nur Schwärze übrig ließ? Das Gefühl, dass mir jemand von hinten eine Schlinge um den Hals warf und sie zuzog? Sodass immer wieder ganze Erdteile auf der Landkarte meines inneren Planeten wie in einem Explosionsblitz ausgelöscht wurden und ich mich der Welt wie ein Neugeborener wieder nähern musste? Woher der Zwang, die Frauen, die ich liebte, fortzustoßen, bis sie mich wirklich abwiesen, und ihnen dann in endlosen, nicht abstellbaren Versöhnungsträumen nachzutrauern? Trennungen hatten sich immer richtiger angefühlt als die Versuche, sie rückgängig zu machen. Wenn es zu Ende ist, hatte mir ein Freund gesagt, weißtdu, dass es zu Ende ist. Bei mir war es nie zu Ende.
    Ich griff nach meinem Handy. Komm und frage nicht, würde ich ins Mikrofon sagen. Lass uns zusammen meine alten Wege gehen und dir erzählen, was mir dabei durch die Seele geht. Und wenn du mir zuhören und dich auf meine Erzählung einlassen kannst, wird der alte Zwang besiegt sein – und wir werden uns endgültig versöhnen.
    Das Handy zeigte an: Kein Netz.

27
    Trotz des Verbots der Mutter und von Hanna traf ich mich immer noch mit Willi. Wir nahmen den Vorortzug nach Garmisch. Er zeigte mir zwei Eintrittskarten für das Eishockeyspiel am Abend – wahrscheinlich hatte er sie mit dem gestohlenen Geld bezahlt, das ich ihm gegeben hatte. Ich war aufgeregt, es war das erste Eishockeyspiel meines Lebens. Aber schon auf der Fahrt stiegen Angstwellen in mir hoch, ich fürchtete, zu spät nach Grainau zurückzukommen. Willi versprach mir, mich zum Abendessen zu Hause abzuliefern. Ich glaubte ihm nicht, aber ich blieb bei ihm.
    Mit angehaltenem Atem verfolgte ich die Krieger auf dem Eis, wie sie mit ihren Helmen und Lanzen auf der gefrorenen Fläche hin und her flitzten. Ich hörte das Scharren ihrer Kufen, wenn sie aus vollem Lauf bremsten und von einer glitzernden Wolke aus Eiskristallen eingehüllt wurden, sah sie gegen die Holzbarriere krachen und ineinander verkrallt zu Boden stürzen. Immer nur für Sekunden entdeckte ich das gedankenschnelle schwarze Ding, dem sie nachjagten.
    Mein Liebling war der Torwart, den ich von meinem Platz aus am besten sehen konnte. Ich sah ihm zu, auch wenn er gar nicht in Bewegung war. Wie er sich plötzlich,die gepanzerten Knie aneinandergepresst, in sein kleines Tor duckte, wenn die Lanzenmänner der gegnerischen Mannschaft auf ihn losstürmten – das riesige Stadion, das ganze Weltall war in diesem Augenblick kleiner als der Kasten hinter ihm. Wenn er mit der Lederhand den Puck aus der Luft gegriffen hatte, richtete er sich auf, blieb lange, wie in ein Nachdenken versunken, stehen und zog ein paar Kreise um sein Tor. Es war dieser Augenblick der Ruhe nach dem Fang, der mich ergriff. Wie er den Puck mit der Faust umschlossen hielt und ihn gar nicht mehr hergeben wollte.
    Ich ließ den Torwart nicht mehr aus den Augen, auch wenn der Kampf um den Puck gerade in der anderen Spielhälfte tobte –
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