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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter
Autoren: Peter Schneider
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der Torwart war der Hüter meiner Wünsche. Ich klatschte mit, wenn er den Puck aus dem Menschenknäuel vor seinem Kasten herausfischte, und klatschte auch, wenn er ihn mit gesenktem Kopf aus seinem Tor holte. Zum Schluss des Spiels wusste ich nicht, wer gewonnen hatte.
    Es war längst dunkel, als wir das Eisstadion verließen, der Zug nach Grainau fuhr nicht mehr. Wir mussten auf dem Waldweg über Hammersbach zu Fuß nach Hause laufen. Ich war wütend auf Willi und beschimpfte ihn. Hannas Warnung fiel mir wieder ein: Willi sei ein Betrüger, er kenne den Erzengel gar nicht und habe uns die ganze Zeit nur ausgenommen. Ich rannte los, begann einen Dauerlauf, musste aber schon nach einer Viertelstunde stehen bleiben. Bald sah ich Willi nicht mehr, der mich überholt hatte, und suchte vergeblich nachdem Rücken, der in der Nacht verschwunden war. Ich rief nach Willi, aber hörte nur ein mächtiges Rauschen in den Wipfeln über mir. Ich wusste, kein Engel würde kommen und mit mir hoch über der dunklen Wand der Tannen nach Grainau fliegen.
    Das Dorf lag im Dunkeln, als ich zurückkam. Nur in dem Holzhaus auf dem Hügel brannte ein verlorenes Licht. Auf Zehenspitzen stieg ich den steilen Weg hinauf, zog die Schuhe aus und öffnete leise, Zentimeter für Zentimeter, die Verandatür. Auf Socken schlich ich durch das Wohnzimmer. Ich erschrak, als ich an der Treppe zum Kinderzimmer die Mutter sah. Sie saß im Dunkeln auf der untersten Stufe, den Kopf an das Treppengeländer gelehnt. Sie schien zu schlafen. Ich war schon fast an ihr vorbei, als sie mich am Bein packte.
    Ich glaube nicht, dass ihre Stimme laut wurde. Wahrscheinlich flüsterte sie, weil sie meine Geschwister nicht wecken wollte. Sicher hat sie mich gefragt, wo ich gewesen sei, wo ich mitten in der Nacht herkomme, was mir bloß einfiele, ihr nicht zu sagen, wo ich hinginge, ob ich mir nicht vorstellen könne, dass sich eine Mutter Sorgen mache, wenn ihr achtjähriger Sohn um Mitternacht noch nicht zu Hause sei.
    Ich hatte mir mit Willi eine Lüge ausgedacht. Ich sei auf dem Geburtstag seines Freundes gewesen und hätte nicht gemerkt, dass es dunkel wurde. Ich weiß nicht mehr, was ich sonst noch hervorsprudelte, jedenfalls merkte meine Mutter, dass ich log.
    Siesagte nichts, als der Zorn in ihr übermächtig wurde und sie nach dem Teppichklopfer griff, den sie sich bereitgelegt hatte. Es war der aus Draht, nicht der aus Stroh geflochtene. Ich spürte, dass sie völlig außer sich war, als sie aus Leibeskräften immer wieder auf mich einschlug, und gleichzeitig, dass sie sich zum Prügeln zwingen musste. Wie konnte sie so besinnungslos und bis zur Erschöpfung auf mich eindreschen! Ich war doch ihr Liebling gewesen!
    Ich glaube nicht, dass ich den Kopf wendete und ihr ins Gesicht blickte, als sie fertig war und mich ins Bett schickte. Dennoch habe ich es ein Leben lang gesehen – das von der Mühe des Schlagens verzerrte, das verzweifelte Gesicht meiner Mutter.
    Ich schlief noch, als sie am anderen Morgen wegfuhr. Es hieß, sie sei bereits todkrank gewesen, als sie das Haus verließ und den Zug nach Hannover nahm. Der Vater brachte sie sofort in eine Klinik. Sie starb wenige Wochen später – an Leberzirrhose, hieß es, an einer Immunschwäche, sagten andere. Ich glaube eher, dass sie an Erschöpfung gestorben ist – an Erschöpfung und an einem gebrochenen Herzen.
    Ein paar Tage nach ihrem Tod saßen alle, der Vater, die Großeltern, meine Geschwister, im Wohnzimmer und hatten Taschentücher in den Händen. Der Vater der Mutter war nicht gekommen. Hanna und ich weinten nicht. Deutlich erinnere ich mich, wie falsch und überflüssigmir das Weinen um die Mutter vorkam. Ich ging von einem Stuhl zum anderen und tröstete die Trauernden. Es war doch gar nichts Schlimmes passiert! Die Mutter war im Himmel und der Erzengel Michael beschützte sie. Ich verriet niemandem, dass ich bald zu ihr fliegen würde, um sie mit mir zu versöhnen.
    Viele Jahre später habe ich Horst, den letzten Liebhaber der Mutter, aufgesucht. Noch in seinem hohen Alter war er ein stattlicher, ein liebenswürdiger Mann. Sein Lispeln wurde stärker, als er von seiner Liebe zu meiner Mutter zu sprechen begann. Ich bemerkte ein schmerzhaftes Lächeln im Gesicht seiner Frau. Offenbar hatte es zwischen ihm und ihr nie jene Verabredung zu völliger Offenheit gegeben, die die Mutter ihrem Mann und ihren Liebhabern zugemutet hatte. Horst bat mich in sein Arbeitszimmer.
    Er hatte meine Mutter damals,
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