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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter
Autoren: Peter Schneider
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dass der See seine Farbe und seine Form behalten hatte. Wie ein flüssiger Smaragd hatte sich der Eibsee in die grauen Felswände geschnitten, die bis zum schneebedeckten Kopf der Zugspitze emporstiegen. Inzwischen hatte sich das Hotel, das schon damals den Zugang zum See verengt hatte, zu einem Ungetüm ausgewachsen. Sonst waren die Ufer unbebaut geblieben.
    Der dichte Wald am Ufer gegenüber spiegelte sich im Wasser und sah aus der Entfernung aus, als würde er aus dem Wasser wachsen. An den Rändern des Sees war die Wasserfläche hellgrün; zur Mitte hin wurde sie rasch dunkel, zeigte aber in ihrem Zentrum wieder helle Flecken, die sich wie ausgelaufene Milch auf einem dunklen Boden abzeichneten. Ein paar kleine, von Gestrüpp und Fichten bestandene Inseln erhoben sich dort aus dem Wasser. An diesen Inseln hatten wir mit demRuderboot manchmal angelegt; der Vater hatte im Boot auf uns gewartet, während wir das wilde Territorium erforschten.
    Plötzlich brach die Sonne durch die Wolkentürme; für Augenblicke entstand an verschiedenen Stellen des Sees das silbrige Vibrieren, das mich als Kind entzückt hatte. Ich vermisste etwas: die verfaulten, vom Wasser entrindeten Baumstämme und Äste, die damals wie träge Krokodile überall im See herumgeschwommen waren.
    Ich setzte mich in das Ufer-Restaurant, das zu dem Hotel-Ungetüm gehörte. Das Licht wechselte beständig, während ich meine Karaffe Wein austrank. Die Ostwand der Zugspitze veränderte in kurzen Abständen ihre Färbung. Eben noch in weißlich schimmerndes Grau getaucht, verwandelten sich die Felswände binnen Minuten in eine dunkle, undurchdringliche Masse, die von quer laufenden schwärzlichen Gesteinsschichten durchzogen wurde – wie von urzeitlichen, nicht entzifferbaren Schriftbändern. Ein starker Wind kam auf; die Gäste zahlten, der Kellner kurbelte in Hast die Sonnenschirme herunter und empfahl mir, mich ins Innere des Restaurants zurückzuziehen.
    Ich nahm den Weg um den Eibsee; passierte die Stelle, an der im Sommer die Ruderboote vermietet wurden – war es dieselbe Stelle wie damals? –, ging an der ersten Öffnung, die Zugang zum See gewährte, ans Wasser und hielt die Hand hinein. Der Eibsee war immereiskalt gewesen, und eiskalt war er jetzt. Aber wenn man einmal drin war und lang genug untertauchte, hatte der Vater gesagt, würde man die Kälte nicht mehr spüren und könne eine halbe Stunde lang im Eibsee schwimmen. Der Kieselstrand war für die nackten Füße immer ungemütlich gewesen, und kieselhart und abweisend war er jetzt. Plötzlich fiel mir ein, dass ich als Kind einmal versucht hatte, den ganzen Eibsee barfuß zu umrunden – Willi hatte das Laufen in Sandalen »eine Verweichlichung« genannt, unwürdig eines Mannes. Schon nach einer Viertelstunde hatte mich der Vater auf den Rücken nehmen müssen, weil meine Füße bluteten.
    Der Rundweg um den Eibsee war alle hundert Meter mit Namen, Warnschildern und ökologischen Hinweisen beschildert. Nicht von den markierten Wegen abweichen! Es gibt seltene und geschützte Pflanzen, die Schaden nehmen könnten! – Nicht die Enten füttern! – Jedes Rinnsal, das durch die steilen Felstrümmer einen Weg zum See gefunden hatte, trug inzwischen einen Namen und eine Nummer. Die überall aufgestellten Mülleimer waren mit rot durchgestrichenen Symbolen beklebt, die alles ausschlossen, was ein Spaziergänger am Eibsee wohl ohnehin nicht würde loswerden wollen: Keine Batterien bitte, kein Öl und keinen Elektromüll. Aber auch alles, was er gern entsorgt hätte: Keine Flaschen bitte, auch nicht Bio-Müll!
    Zweifellos hatten die Verfasser dieser Schilder das Wohl zukünftiger Generationen und der Natur im Auge.Sie wollten, so schrieben sie, ein erträgliches menschliches Ambiente sichern. Sie waren von der Idee geleitet, dass die ganze, gewaltige Natur um sie herum untergehen würde, wenn sie nicht vom Menschen, sprich von den Naturschützern, beschützt würde. Die jahrtausendealte Erfahrung, dass diese Natur unendlich stärker war als sie, dass der Mensch durch seinen Missbrauch allenfalls das Überleben der eigenen Spezies, nicht aber das Überleben der Natur gefährden konnte, war diesen Kuratoren fremd.
    Ich zündete mir eine Zigarette an und genoss die empörten Blicke einer Touristengruppe, die es eilig hatte, zu ihrem Bus auf dem Hotel-Parkplatz zurückzukehren. Obwohl die Wanderer, wie ich an ihrem Akzent erriet, von weit her kamen, sahen sie mit ihren nagelneuen Rucksäcken,
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