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Lang lebe die Nacht: Ein phantastischer Historienroman (German Edition)

Lang lebe die Nacht: Ein phantastischer Historienroman (German Edition)

Titel: Lang lebe die Nacht: Ein phantastischer Historienroman (German Edition)
Autoren: Thilo Corzilius
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Prolog

    D ie klare Luft versprach einen kalten Herbst. Überall kaufte man fleißig für den baldigen Winter ein und legte Vorräte an.
    Der hochgewachsene, vom Leben gezeichnete Mann war verzweifelt, und er hasste die Schwermut, die ihn umgab. Sie widersprach seinem Stolz, doch er wusste, dass es für ein nach Erlösung hungerndes Herz keinen passenderen Zeitpunkt als den frühen Morgen gab.
    Die ersten Blätter hatten schon von den Farben des Herbstes kosten dürfen. Einige hatten sich bereits gelöst und waren in die Teiche gefallen, die ansonsten makellos gepflegt und schweigend eine schonungslose Welt widerspiegelten.
    Ein einsamer Schwan ließ sich auf dem Wasser treiben, schlafend, den Kopf unter einem der mächtigen Flügel verborgen. Außer dem eleganten Tier gab es niemanden hier.
    Der gebrochene Mann schlenderte gedankenverloren am Ufer entlang, bis er die gusseiserne Parkbank erreichte, und setzte sich. Die Beine schlug er übereinander. Trotz seines schlanken Körperbaus entlockte er der Bank ein rostiges Ächzen – gerade laut genug, damit der Schwan den Kopf hob und seinen Gast fixierte.
    „Habe ich dich geweckt?“, fragte der Mann.
    Der Schwan schüttelte den Kopf.
    „Du warst immer eine Langschläferin“, bezichtigte er den Schwan der Lüge.
    Der elegante Vogel ruderte behutsam zum Rand des Teiches und hob seinen Leib aus dem kühlen Nass. Er nahm sich einige Zeit, um sein Gefieder zu putzen, bis er sich als ansehnlich genug empfand.
    Dann machte er einige lange Schritte, stieß sich ab und schwang sich in die Luft, um eine elegante Schleife über den herbstlichen Teichen zu drehen. Bei der Landung spreizte er die enormen Schwingen dicht über dem Grund, um direkt neben seinem Besucher zum Stehen zu kommen.
    „Es wird kälter“, sprach der Vogel mit einer sanften Frauenstimme, und in seine sonst so berechnenden Augen legte sich ein milder, kluger Glanz.
    Der Mann lachte auf. Es klang nicht so befreit, wie es vielleicht vor langen Jahren einmal geklungen hatte.
    „Das ist mir egal, du weißt doch: Vor dem Kamin lassen sich die Winterabende mit Leichtigkeit herumbringen. Mit einer spannenden, lehrreichen Lektüre vergeht die Zeit wie im Flug.“
    „Wenn du so redest, klingst du fast wie ein glücklicher Mann“, bemerkte der Schwan.
    „Ich bin ein glücklicher Mann, solange ich deine Schönheit betrachten kann.“
    Der Schwan legte den Kopf schief und musterte den Mann auf der Bank.
    „Nein“, stellte der Schwan mit der Frauenstimme schließlich entschieden klar.
    Stille legte sich über sie, während der Mann die Dampfwolken betrachtete, zu denen sein Atem kondensierte. Schließlich straffte er die Schultern und kratzte sich im Nacken.
    „Ich habe versprochen, diese Angelegenheit zu Ende zu führen!“
    Kopfschüttelnd trat der Schwan noch näher.
    „Lass es!“, mahnte die schöne Stimme. „Du findest doch ohnehin keine Lösung.“
    „Aber wo ich doch weiß, dass es möglich ist ...“, entgegnete der Mann mit einem verzweifelten Unterton. „Sieh dich doch bloß an!“
    Doch der Schwan sah nicht an sich herunter, denn er wusste, wie es um die Seele des Mannes bestellt war. Stattdessen legte er seinen schlanken Hals für einige Augenblicke auf den vom Gehrock bedeckten Schoß des Verzweifelten und ließ sich über das vom Tau klamme Gefieder streicheln.

K apitel 1

    Briefe
    1.
    D ie Nacht war ein Flüstern und das Dunkel Gegenstand ihres Gesprächs.
    Hätte man mich befragt, wann mich zum ersten Mal eine Ahnung von all dem beschlich, das vor uns lag, so hätte ich lange grübeln müssen. Mir wäre einiges durch den Kopf gegangen. Viele lange Tage voller seelenfressender Kälte, viele lange Nächte, erfüllt vom Bangen vor dem, was uns am nächsten Morgen, am folgenden Tag oder in der sich anschließenden Woche in seinen Bann ziehen mochte. Ich hätte an die Abende in der Bibliothek auf der Suche nach Antworten gedacht, als wir uns langsam ein Bild zusammensetzten. Ich hätte an das seltsame Gebaren denken müssen, mit dem man uns allerorts entgegentrat. Doch das waren alles nur Momente, in denen das Zweifeln im vorderen – Immanuel Kant hätte vielleicht gesagt, im bewussten – Teil des Kopfes angelangt war.
    In der Rückschau glaube ich, zum ersten Mal streifte mich der düstere Hauch von Vorahnung, als ich Elsas Brief in den Händen hielt und die Zeilen überflog. In diesem Augenblick war es für mich vielleicht noch nicht völlig greifbar, doch das Leben war schon immer ein
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