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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
Autoren: Setz Clemens J.
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Badezimmer stehen, eine elektronische sogar. Außerdem wusste Daniel ganz genau, wie viel er wog.
    Er riss sich von der Waage los und ging zum Auto. Erst als er die Wagentür schon geschlossen hatte und den scharfen Rand des Sicherheitsgurtes durch seine Hand gleiten ließ, bemerkte er, dass er die ganze Post mitgenommen hatte, ohne die Broschüren und Werbebriefe weggeworfen zu haben. Es ärgerte ihn, und er legte den Müll auf den Beifahrersitz.
    Dumme Waage, dachte er, als er das Auto vorsichtig rückwärts aus der schmalen Einfahrt steuerte.
    Als er im Büro ankam, warf er gleich als Erstes den Brief von der Versicherung und die andere Reklame in den Papierkorb, stopfte alles tief und fest hinein und rief seine Frau zu Hause an. Sie nahm erst nach dem sechsten Klingeln ab, sie schnaufte. Im Hintergrund hörte er Radiomusik, also befand sie sich wahrscheinlich im Zimmer, wo die Stereoanlage stand. Aber warum war sie so außer Atem?
    Er hätte sie danach fragen können, aber er tat es nicht. Er erklärte ihr, was er eben im Hof gesehen hatte. Sie verstand zuerst nicht, was er von ihr wollte, dann fragte sie ihn, wieso er sie deswegen anrufe.
    – Ach, nur so, sagte Daniel.
    – Okay.
    Sie atmete einmal tief aus.
    – Kannst du mir eines verraten?, sagte er. Welcher Idiot stellt so etwas in den Garten?
    – Was? Keine Ahnung, meinte sie.
    – Es nimmt ungeheuer viel Platz weg, sagte Daniel. Man kommt kaum zu den Fahrrädern.
    – Wie groß ist es denn?, fragte sie.
    – Na ja, irgendwie riesig …
    Daniel machte sitzend eine verkrampfte Schwimmbewegung, um die enorme Größe des seltsamen Relikts anzuzeigen.
    – Was heißt riesig? So groß wie ein Trampolin?
    – Nein, nein, nicht so wie ein … Also höchstens so groß wie, wie …
    Er suchte nach einem passenden Vergleich, aber als er merkte, dass sich seine Frau am anderen Ende der Leitung räusperte, sagte er, was ihm gerade in den Sinn kam.
    – Wie ein Kind. Höchstens so groß wie ein Kind.
    – Aber das ist doch nicht riesig, sagte seine Frau. Vielleicht schau ich mir das Ding später an.
    – Nein! Geh nicht hinunter, rief Daniel.
    Seine Frau schwieg eine Weile. Er merkte, dass er den Hörer mit beiden Händen umklammert hielt.
    – Ist ja gut, sagte sie schließlich. Was ist denn los? Hast du die Waage vielleicht erfunden? Ist das wieder eine deiner Geschichten, die mich irgendwie weiterbringen sollen? Wenn du das –
    – Nein, nein, sagte Daniel, ich habe nur gemeint, es ist vielleicht fremdes Eigentum.
    – Schon gut, sagte sie. Du klingst gestresst. Mach ein Kreuzworträtsel.
    – Okay, mache ich, sagte er und legte auf.
3
    Daniels Tochter Lena hieß eigentlich Elena oder auch Helena, mit unbetontem H; in ihrer Geburts- und Taufurkunde fanden sich beide Versionen. Daniel und Rita hatten sie adoptiert. Sie kam aus Mexiko, ihre Herkunft hatte sie allerdings bereits weitgehend abgelegt. Sie erinnerte sich noch ganz gut an ihre Muttersprache, aber nur, wenn man sie auf Spanisch ansprach, was praktisch nie jemand tat, höchstens einmal ein Mensch im Fernsehen. Der Zufall wollte es, dass sie Rita ein wenig ähnlich sah. Daniel dachte manchmal über Lenas biologische Eltern nach. Ohne dass er damit etwas Bestimmtes ausdrücken wollte, stellte er sie sich stets an einem großen Fluss stehend vor.
    Er hatte Rita bei der Arbeit kennen gelernt, aber kurz darauf hatte sie gekündigt. Sie hatte Architektur studiert und wollte sich nun als Designerin versuchen. Schon nach kurzer Zeit gewann sie einen kleinen Preis für ihre ersten Entwürfe; es war ein zweiter Preis gewesen. Die Urkunde hing einen Abend lang an der Wand, und sie saßen davor und betrachteten sie, während im Zimmer eine Uhr tickte. Am nächsten Tag war die Urkunde verschwunden.
    Kurz darauf hatten sie das erste Mal über das Mysterium der Adoption gesprochen.
    Da er sich den ganzen Tag nur schwer konzentrierenkonnte, dachte Daniel an früher, und er dachte an die Waage, die im Hof stand und auf ihn – nein, natürlich wartete sie nicht; was für ein dummer Einfall.
    Bei der Begutachtung eines Plans, der das geisterhaft durchsichtige Fundament eines Krankenhauses zeigte, fiel ihm eine eindeutige Fehlberechnung erst nach der dritten Kontrolle auf. Er sprach mit einem Kollegen darüber, der ihm den Plan aus der Hand nahm und schweigend Strich für Strich untersuchte, während Daniel nutzlos danebenstand und auf den Fußballen wippte.
    Er fragte, ob es sehr ungelegen wäre, wenn er heute etwas früher
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