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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
Autoren: Setz Clemens J.
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es auch eines Tages auseinanderbrechen, trotz des ausgeklügelten Mechanismus, der es geschmeidig und am Leben hielt.
    Lea krallte die Finger in ihren Oberschenkel. Der Schmerz gab ihr genug Energie, um vom kalten Boden vor der Parkbank aufzustehen. Wenn sie noch länger hier sitzen bliebe, würde sie sich noch verkühlen. Sie war schon seit den Morgenstunden hier, in sicherer Entfernung vom Kunstwerk, denn sie hatte das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Jetzt, da sie aufrecht stand, sickerte Entspannung durch ihren ganzen Körper. Es war wie eine unendliche Fürsorglichkeit für ihren eigenen Körper. Er war so zerbrechlich, dachte sie, er war so zart. Er musste umsorgt und bei allem unterstützt werden. Man musste ihm zeigen, wie sehr man ihn brauchte, sonst verabschiedete er sich zu schnell.
    Sie war müde, sie wollte nach Hause, sich ausruhen.
    Der Gedanke an ihr warmes, weiches Bett brachte sie zum Weinen. Ich bin so albern, sagte sie sich. Sie tastete nach den Tränen, die über ihr Gesicht liefen. Seit sie zu dem Kind ging, weinte sie wieder häufiger. Früher hatte sie oft jahrelang kein einziges Mal geweint. Jetzt brauchte sie nur mehr den geringsten Auslöser. Sie war auf dem Weg, ein besserer Mensch zu werden, dachte sie.
    Auf dem Weg nach Hause trat sie ein paar Mülltonnen um.

    Nach dem Abtransport des Kindes tappte die Stadt eine Weile in einem kulturellen Vakuum herum, ließ sich hie und da zu lauten und desorientierten Protestkundgebungen hinreißen und lenkte für eine kurze Zeit die soplötzlich ziellos gewordene Gewaltausübung auf andere Dinge um. Aber diese Dinge wehrten sich meist oder wollten nichts davon wissen.
    Eines Nachts brannte eine Schule bis auf die Grundmauern nieder, aber Gott sei Dank wurde niemand verletzt.
    In die leere Nische zwischen den beiden unbewohnten Häusern am Rand des Parks stellte man – da niemand das gähnende schwarze Loch, das nach dem Abtransport der Skulptur entstanden war, ertrug – zunächst ein Ringelspiel, das heißt, man bettete es dreihundert Meter weit um, vom einen Ende des Parks zum andern. Anfangs fuhren einige Kinder auf ihm, aber nach einigen Rundläufen ließen sie sich von ihren enttäuschten Eltern vom Sitz heben. Schon nach einer Woche musste es den Betrieb endgültig einstellen, da die Pferde und Schweine und Affen und Dinosaurier, auf denen man im Kreis reiten konnte, kaum mehr erkennbar waren unter all den Schrammen, Dellen und Einschnitten, die ihnen in verschiedenen Nacht-und-Nebel-Aktionen zugefügt worden waren.
    Kirill ging oft zu dem alten Karussell. Es interessierte ihn, wie es sich veränderte. Irgendwann würde es bestimmt auch wieder entfernt werden, und dann würde man ja sehen, was an seine Stelle trat. Vielleicht nichts. Vielleicht ein kleines Hinweisschild.
    Der Herbst zeigte sich milde, an manchen Tagen war es sogar wieder so heiß wie im August. Nur der Wind war anders, ein ständiges Säuseln, das die Luft erfüllte, wie das Scharren einer Grammophonnadel auf dem glatten Innenkreis einer Schallplatte. Kleine Samenhülsen-Propellerbedeckten Cafétische und Gehwege, und auf den Geländern der Pavillons hüpften Spatzen herum.
    An einem jener heißeren Tage sah Kirill Lea beim Karussell. Sie stand dort verloren in der Gegend herum, wie ein Bauer am Rand des Schachbretts steht und darauf wartet, gegen eine mächtigere Spielfigur eingetauscht zu werden. Es war früher Abend, und die Sonne war bereits hinter einigen hohen Gebäuden versunken. Als er sich Lea von hinten näherte, fiel ihm als Erstes ihr Nacken auf. Einen Augenblick lang hielt er es für möglich, sie zur Begrüßung am Nacken zu packen und gegen eine Mauer zu drängen. Aber dann drehte sie sich einfach zu ihm um, wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sagte:
    – He, hallo.
    – Hallo, sagte Kirill und hob die Hand zur Begrüßung.
    Lea trug ein sattelförmiges Pflaster auf dem Nasenrücken. Es sah niedlich aus. Kirill hätte es gerne berührt.
    – Tut das weh?
    – Was? Ach so, nein. Nein, tut nicht mehr weh.
    Sie ging los, und an der leichten Seitwärtshaltung ihres Oberkörpers merkte er, dass sie wollte, dass er sie begleitete. Sie kehrten dem Karussell den Rücken und gingen in Richtung Park. Die Spazierwege sahen aus wie Flecken auf einer Malerschürze. Über die kleine Brücke kamen zwei Leute, ein blindes Pärchen, das seine beiden Blindenstöcke in langsamem Takt über die Pflastersteine bewegte, behutsam synchronisiert wie zwei
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