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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
Autoren: Setz Clemens J.
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flattern, er stöhnte auf, riss sich von dem schrecklichen Anblick los und fiel aus dem Bett wie ein hilfloser Vogel.
    – Verdammter Haufen Dreck, versuchte Kirill zu denken.
    Aber es half nichts, also sagte er es laut. Seine Stimme wurde von den eng stehenden Wänden zurückgeworfen. Er stand vor dem Mahlstädter Kind , in seiner Hand hielt er einen Ast, den er im Park gefunden hatte. Der Wind, der um die Ecke der Sackgasse wehte, war wie eine mitgehörte Unterhaltung fremder Wesen.
    Er verpasste dem Kind einen leichten Schlag, dann einen festeren. Es ging ganz leicht. Er blickte sich um, ob ihn jemand beobachtete. Ihm wurde kalt, und er zog seinen Schal fest. Er ließ einen weiteren Schlag auf das Kind niedersausen, diesmal an die Stelle, an der ein Ohr hätte sein müssen. Eine kleine Kerbe blieb zurück.
    Seine Schläge wurden immer heftiger, und seine Atmung beschleunigte sich. Er musste das Bild von dem Oktopus, das Bild von Lea, die das Kind verprügelte, das Bild seiner eigenen Hilflosigkeit loswerden. Das Kind würde ihm dabei helfen. Er krallte seine Finger in den dummen, zu Boden blickenden Lehmkopf. Es fühlte sich gar nicht wie Lehm an. Eher wie ein Kunststoff. Wahrscheinlich war Lehm einfach poetischer, dachte Kirill. Vielleicht besteht es in Wirklichkeit aus Industriemüll. Vielleicht ist es giftig.
    Er roch an seinen Fingern.
    Kein Geruch.
    Er trat dem Kind gegen den Kopf. Dann fiel ihm auf, dass er das Gesicht noch gar nicht gesehen hatte. Man konnte es nur dann sehen, wenn man sich quasi dem Kind in den Schoß legte. Da er seine Jacke nicht schmutzig machen wollte, zog er sie aus und legte sie auf den Boden. Sein Hemd folgte.
    Das Geräusch umgestoßener Mülltonnen ließ ihn zusammenzucken. Aber es war nicht in der Nähe.
    Er legte sich auf die ausgestreckten Beine des Kindes. Sein Oberkörper und sein Gesicht passten genau in den Zwischenraum, den der hängende Kopf und die Knie des Mahlstädter Kindes bildeten. Es war zu dunkel, um die Gesichtszüge des Kindes zu erkennen, also tastete Kirill mit seinen vom vielen Schlagen taub gewordenen Fingern danach. Aber bald verlor er die Geduld, wand sich heraus und durchsuchte seine Jacke nach Streichhölzern. Er fand eine Schachtel, schüttelte sie, um das beruhigende Geräusch zu hören, und ging dann zum Kind zurück.
    Er schob seinen Körper zurück zwischen Knie und Kinn des sitzenden Kindes, riss ein Streichholz an und schaute.
    Das hatte er nicht erwartet.
    Die Gesichtszüge des Kindes waren so fein, als wären sie mit einer Rasierklinge in die grobe Substanz geschnitten. Noch nie, so schien es, hatte ein Schlag diese Stelle erreicht. Natürlich, dachte Kirill etwas verwirrt, es sitzt ja auch so gekrümmt da und lässt den Kopf hängen, wie soll da auch ein Schlag …
    Das Kind lächelte wie eine buddhistische Statue. Kirill schrie auf, das Streichholz hatte ihm die Finger verbrannt, und er ließ es fallen. Es streifte seine Wange, als es in die Dunkelheit fiel.

    Lea saß erschöpft auf dem Boden. Sie war vollkommen durchgeschwitzt, und an ihren Händen klebte Blut. Außerdemwar ihr ein wenig schlecht. Das passierte ihr in letzter Zeit häufiger. Früh am Morgen ging es meist los.
    Sie sah auf die Uhr, nickte.
    Wenn sie morgens erwachte, hatte sie großen Appetit auf alles Mögliche. Aber dann wurde ihr von einem Augenblick auf den nächsten speiübel. Das musste an der Hitze liegen, die in ihrer Wohnung herrschte. Die Hitze kroch über ihren Rücken, in ihren Nacken und entzündete von dort ihr Gehirn, indem es die Wirbelsäule als Zündschnur verwendete. Sie kannte die Hitze, sie war zu allem fähig.
    Sie wischte sich mit der schmutzigen Hand übers Gesicht. Aber davon wurde es nicht besser. Sie musste den Ärmel ihrer Jacke umstülpen und das trocken gebliebene Innenfutter verwenden, um sich die Augen abzuwischen.
    Überall auf ihrem Körper waren kleine Lehmspritzer. Auf ihrer Hose, auf ihren Schuhen, auf ihrer Wange. Es fühlte sich gut an. Sie fühlte, dass sie noch nicht genug hatte. Aber sie war zu müde, um noch einmal auf das Kind loszugehen. Für heute genug Kunst, dachte sie. Für heute war sie der Vollkommenheit lange genug entgegengegangen.
    Ob es je vollendet werden würde, überlegte sie. Vielleicht war das Kind ja eines Tages so hübsch und vollkommen, die Kinderform so allgemein anerkannt , dass niemand mehr es zu berühren wagte, dass jeder Schlag auf seinen Kopf und Körper als Verbrechen galt, als Sakrileg. Vielleicht würde
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