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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
Autoren: Setz Clemens J.
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nachahmen. Man hatte dann zwei Möglichkeiten: um Hilfe rufen oder kämpfen. In unseren Gedanken entschieden wir uns meist für den Kampf, damit niemand merkte, dass sich in unsere Stimmen bereits Tränen mischten.
    Wir glaubten an nichts. Wir sprachen unentwegt von Banden, vom Davonlaufen, von Heckenschützen und Überfällen, vom Erlernen einer schwierigen Kampfkunst und sogar davon, ein Mädchen zu verführen. Das alles hing, soweit man sehen konnte, irgendwie zusammen.
    Es war der seltsamste Zustand, die rätselhafteste Einrichtung überhaupt: eine Welt, in der es Mädchen gab, Mädchen, von denen wir im Turnunterricht getrennt waren, die höhere Stimmen hatten und sich miteinander in einem jahrhundertealten Geheimcode verständigten, der versiegelt und streng bewacht war. Jeder Versuch, den Code gewaltsam zu knacken, führte zur Katastrophe – Tränen, Gebrüll, Lehrer und Eltern, die auf den Unterschied zwischen den Geschlechtern hinwiesen und uns am Handgelenk in irgendeine Richtung zerrten.
    Aus rätselhaften Gründen machte uns gerade die körperliche Unterlegenheit der Mädchen, auf die man uns ständig hinwies, ihre schwächeren Arme und Beine, erst richtig wütend, sie schien wie eine Verspottung unserer eigenen Körper. Wir hätten viel darum gegeben, das heißt bezahlt, wenn wir nur für fünf Minuten allein mit einem Mädchen gewesen wären, allein in einem abgesperrten Raum. Allein und ohne Konsequenzen.
    Es gab keine Möglichkeit, uns zu beruhigen.
    Während mancher Schulstunden dachte ich daran, wie wunderbar es sein müsste, ein Mädchen, am besteneines aus der vorderen Reihe, eines jener Mädchen mit Brille und langem Pferdeschwanz, in eine Statue zu verwandeln – nicht in eine aus Stein, sie sollte lediglich bewegungsunfähig sein, die Augen von mir aus geschlossen und ohne Kleider. Was man alles mit einem solchen Mädchen anstellen könnte, alles, einfach alles – mir fiel vor Aufregung darüber gar nichts Originelles ein, das ich auch meinen Freunden erzählen konnte. Sie alle hungerten, wie ich, nach solchen Erzählungen, nach den quälenden Visionen, die einer von uns etwa eines Nachts gehabt hatte und am nächsten Tag vorm Schulgebäude schilderte – diese entsetzlichen Fantasien aus erfüllten Wünschen und gestohlenen Schätzen. Mein Herz wurde jedes Mal zu einem Buch mit aufflatternden Seiten, wenn einer von uns etwas Neues erzählte, eine Episode, einen Einfall, eine Spiel- oder Folteranleitung – und natürlich musste dann jeder den anderen übertrumpfen, und so verfielen wir in dunkel sprießende Improvisationen, die uns noch tagelang verfolgten, wenn wir sie richtig hinbekamen.
    – Die Laura … mit ihrem langen Pferdeschwanz (wie diese letzte Silbe schmatzte!) … wenn die sich hinknien würde … wie ein Hund … und dann nimmt man einfach die Haare und zieht sie zwischen ihre Arschbacken … dass sie sich den Arsch mit ihrem Zopf abwischt …
    – Oder du knotest die Haare dann so, schau, so …
    – Und dann steckst du sie ihr rein!
    Und das schmutzige Wort, das gleichzeitig in einem anderen Leben rein , also sauber, unbefleckt, bedeuten konnte, zerging salzig auf der Zunge.
    Die Tatsache, dass die Mädchen nichts von uns hieltenund sich nicht im Geringsten auf die gleiche Art und Weise über uns zu unterhalten schienen wie wir über sie, stachelte uns zu immer kühneren Flugversuchen an.
    Der einzige Ort, an dem es keine festgelegten Sitzplätze für Buben und Mädchen gab, war die Kirche.

    In der Kirche drehte sich alles darum, dass man nur so weit und nicht weiter gehen durfte in dem riesigen, fast immer menschenleeren Gebäude. Bis zum Altar und nicht weiter. Nein, bis zu den Stufen vor dem Altar. Und auch nicht in die Sakristei, nicht ohne Aufsicht.
    Unsere Schritte hatten lange Echos: Doch … Doch … Dochchch …
    Von Pater Johann hatten wir damals die Erstkommunion erhalten, ein seltsames Martyrium aus Basteleien und rituellen Kerzen, die monatelang meine Träume beschäftigten. Und alle Mädchen in Weiß. Gebete aufsagen. Der Ablauf der Messe, wie die Strophen eines Gedichts auswendig im Kopf. Das merkwürdige Wort Fürbitten. Die lange Reihe der Mädchen und Buben mit den Kerzen in der Hand. Der schwitzende Fotograf auf dem kleinen Gemeindeparkplatz.
    Mir gefiel es, zur Messe zu gehen, weil ich da noch viele meiner alten Schulfreunde treffen konnte. Die Kinder im Gymnasium, das ich seit einem halben Jahr besuchte, waren mir alle noch fremd und würden das
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