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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
Autoren: Setz Clemens J.
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übermütig war. Er gestand es sich ein, sprach es ein paar Mal aus, aber es half nichts.
    In der Küche war es dunkel. Er schaltete das Licht ein. Jetzt war die ganze Wohnung hell erleuchtet, jedes einzelne Zimmer. Ein Mensch unten auf der Straße würde wahrscheinlich glauben, dort oben wäre eine ganze Gesellschaft versammelt. Aber es gab in der letzten Zeit nachts merkwürdig wenig Verkehr in dieser Gegend. Alles war wie ausgestorben. Kirill schaute lange, aber es war tatsächlich niemand zu sehen. Das Licht der Straßenlaternen machte es in der Wohnung noch ein wenig kühler, fand er. Er zog sich die lila Weste fester um die Handgelenke. Dünne, uhrenlose Handgelenke. Gelenke des Marionettenkünstlers, der er gerne gewesen wäre. Über das Marionettentheater . Letzte Kapitel der Geschichte der Welt. In seinem Kopf tanzte die Nachtzeit schwerfällig dahin.
    Er spielte einige Begrüßungen durch, die er Lea am nächsten Morgen vortragen wollte. Was sagt man einem Menschen, der die ganze Nacht wach war – und nicht nur wach, sondern auch aktiv. Was sagt man einer Frau, die in deiner Schuld steht, die allerdings gerade die halbe Nacht lang auf ein Kind aus Lehm eingedroschen hat? Sie ist im Grunde noch sehr jung, dachte Kirill,jünger zumindest, als er sich fühlte. Sie selbst fand sich immer unterentwickelt – das war ihr Wort für jung. Sie sah gerne in allem das Deprimierende, Enttäuschende. Die dunkle Seite des Kreisels.
    Kirill stand auf. Er konnte keine fünf Minuten still sitzen. Das musste die Ungeduld der Wohnung selbst sein, eine Art eingesperrtes Vorgefühl hing in diesen Räumen, eine Erwartung, deren Ziel sich irgendwo in den Fensterkreuzen verfangen hatte.
    Also wieder auf den Balkon.
    Er hielt sich mit beiden Händen an der Weste fest, denn es begann draußen richtig kalt zu werden. Jedes Mal ein wenig kälter. Und zu Mitternacht gefriert dann alles. Und von der Nase hängt ein großer Eiszapfen. One must have a mind of winter. Um alles zu begreifen, muss man das Ding selbst werden. Um den Winter zu sehen, muss man selbst Winter werden. Um Leas kleine Verrücktheit zu begreifen – kurz, er musste sich vorbereiten.
    Vielleicht hatte sie auch gar nichts Brutales vorgehabt, vielleicht war es mehr eine Studie, eine Verhaltensauslegung ihrer Freunde. Er kannte Lea, sie war zu so etwas fähig.
    Er ging zurück ins Zimmer, schloss die Balkontür und setzte sich in den tiefen Ledersessel. Ein wenig ungewohnt war diese Umgebung schon … Wie jeden Mann beruhigten Kirill Fantasien über einen Harem aus allen Frauen, die er kannte. Er stellte sich vor, sie wären unter einer Art Stillhalte-Zauber … Lea, Annelies, Andrea, die namenlose Sekretärin seines Vaters … und sie knieten nackt vor ihm auf dem Teppich. Augen geschlossen. Und er, Kirill, ging sie allesamt Punkt für Punkt durch …

    Diese Stadt war nicht die erste, der das Mahlstädter Kind einen Besuch abstattete. Aber es war trotz allem jedes Mal das erste Mal, da konnten Artikel und Bücher im Vorfeld erscheinen, so viele wollten.
    Politiker und Pädagogen hatten sich längst verausgabt, teilten einander Preise, Ehrungen und lobende Erwähnungen zu, aber die wirklichen Träger des Geheimnisses des Mahlstädter Kindes waren die Intellektuellen. Sie brauchten naturgemäß am längsten, um sich für eine Sache zu erwärmen, aber wenn das erst einmal erledigt war, ließen sie sich durch nichts mehr aufhalten. Sie waren es, die als Erste den Mut zu gemeinsamen, organisierten Kunstaktionen aufgebracht hatten, bei denen auch große Menschenmengen das Mahlstädter Kind kennen lernen und bestaunen konnten. Es fanden abendliche Treffen statt, Lesungen, die bis spät in die Nacht und manchmal bis zum Morgen dauerten, Konzerte wurden im nahen Park abgehalten – alle sonst nur schleppend vorankommenden Kulturbemühungen der Stadt erfreuten sich eines unerwartet starken Motors.
    Ein einflussreicher Kolumnist schrieb darüber: Hier hat man nun zum ersten Mal die Chance, Kunst mitzuerleben, wie sie geschieht, während sie sich ihren Raum schafft, in dem sie vor sich geht und sich ereignet. Mit der Sprache und durch die Sprache können wir nämlich nicht sagen, was genau es ist, das an der Kunst dran ist, weil das Unsagbare nicht aussprechbar ist und sich definitionsgemäß nur in uns selbst ereignet. Aber in Gegenwart des Kindes geht es uns wie den Kindern des Laokoon: Wir können uns nicht herauswinden. Zuwünschen bleibt, dass es mehr Kunstwerke dieser Art
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