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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
Autoren: Setz Clemens J.
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zappelnden Mann in ein wie aus dem Nichts aufgetauchtes Taxi und brauste davon. Das verzweifelte Gesicht der Frau. Der Kakao dampfte weiter vor sich hin.
    In der Werbepause, als sich eine halbnackte Frau an einem Meeresstrand räkelte und sich Kokosmilch auf den Bauchnabel goss, schaltete Kirill um. Für einen Augenblick schloss er die Augen. Die Tasten der Fernbedienung in seiner Hand waren sehr warm.

    Die allgemeine, vollkommene Form eines Kindes .
    Der stille, unbestimmbare Konsens.
    Es dauerte einige Zeit, bis die Sache richtig in Gang kam. Anfangs stand – wie in jeder Stadt – die Skulptur wie ein falsch eingeordnetes Mahnmal einfach auf ihrem Platz. Kinder spielten um sie herum, kletterten an ihr hoch oder versteckten sich hinter ihr. Kinder und Kunstliebhaber. Aber außer diesen beiden Gruppen fanden sich kaum Menschen, die sich der Gegenwart der Figur für längere Zeit überlassen oder gar über ihre Bedeutung nachgrübeln wollten. Natürlich lasen manche die Tafel an der Wand und blieben oft mehrere Minuten lang stehen, mit einem an die Schulter gelehnten Schirmoder einer Hand am Rucksackgurt. Und am nächsten Tag kamen einige wieder, in Begleitung oder auch allein, und standen wieder dort, ein oder zwei Minuten lang.
    Diese Schonfrist aus natürlicher Scheu dauerte ungefähr zwei Wochen.
    Als Erstes ergriffen einige politische Wirrköpfe die Initiative. Auch das war normal und erwartbar. Es geschah so in beinahe jeder Stadt. Sie riefen zur Erfüllung des Kunst-Zweckes auf, präsentierten Flipchart-Entwürfe der ihrer Ansicht nach allgemein anerkannten Gestalt eines Kindes. Je nach Lehrmeinung besaß das ideale Kind entweder einen besonders großen Kopf und schnelle Beine, mit denen es vor unverständigen Leuten flüchten konnte, oder es war muskulös, und sein Kopf glich einer verbeulten Billardkugel. Mit einander übertreffenden Feuerwerken begrüßten die verschiedenen politischen Gruppierungen ihre jeweilige Vision des großen, ewig unvollendeten Kunstwerks.
    Als Nächstes kamen die Pädagogen. Sie verfassten Artikel in Fachzeitschriften, gaben Interviews im Fernsehen und schrieben Bücher, die wie Tetris-Steine von oben in die Bestsellerlisten fielen und von dort eine ganze Weile nicht mehr verschwanden. Sie stellten die Kunst an sich dem Kind an sich gegenüber, kamen zu dem Schluss, dass beides nicht existierte, und verlagerten ihr Interesse schließlich auf die wirksamsten Formen von Ruten und Klatschen, mit denen – in barbarischer Vorzeit – die Kinder in den Schulen zum Lernen angehalten worden waren. Aber ein Kind aus Lehm war selbstverständlich etwas anderes, und das vor Jahrzehnten in die Archive verbannte Wissen um die peinliche Bestrafungvon Zöglingen erschien über Nacht wieder im Bewusstsein.

    Kirill ging durch die Zimmer und stellte sich Leas Dankbarkeit vor, mit der sie ihn am Morgen begrüßen würde. An Schlaf war nicht zu denken. Obwohl er vor ein paar Stunden schon knapp davor war, einzuschlafen, war er jetzt aufgeregt, sprach ein wenig mit sich selbst, mit dem Kater und den Puppengesichtern der kleinen Porträtfotos auf Klavier und Fernseher und ging alle paar Minuten auf den Balkon, der auf den nächtlichen Hof hinuntersah. Die Fenster der Nachbarschaft schliefen schon, nur in ganz wenigen war noch Licht oder Bewegung zu sehen. Auf einem erleuchteten Balkon ragte die Silhouette eines Windrads in die Nacht hinein. Es wurde nun recht kühl, und Kirill suchte in der Wohnung nach etwas zum Anziehen. Zuerst traute er sich nicht, Leas Schrank aufzumachen, aber als es getan war, betrachtete er alles darin mit beinahe fachmännischer Sorgfalt.
    Ein Schal, nein, das war wohl nichts. Eine Weste, gut.
    Und nicht einmal zu weiblich. Große Knöpfe. Aber sie passte.
    Er ging vor dem schmalen Spiegel auf und ab. Sie wird mich loben, dachte er, und mich bitten, noch ein wenig länger bei ihr zu bleiben. Bestimmt kommt sie allein zurück, ohne den eigenartigen Menschen mit dem Zirkusdirektor-Schnauzbart. Glatze. Unangenehme Handschuhe.
    Nein, dachte er, bestimmt kommt sie allein.
    Er hasste Leas Freund. Er war ihm nur einmal begegnet, und die beiden Männer hatten sofort gespürt, dass der andere ein Feind war. Die Evolution hatte sie mit dieser Art von Antenne ausgestattet, also machten sie davon auch Gebrauch.
    Auf einem der erkalteten Heizkörper entdeckte er einen schlafenden Nachtfalter und plauderte mit ihm.
    – Schlaf nur, sagte er, ich tu dir nichts.
    Er spürte, dass er
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