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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
Autoren: Setz Clemens J.
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Situation mit einem Blick: Der Fremde okkupierte immer noch die Decke und den Sessel. Er strich mit dem Kinn zum wiederholten Mal über eine Ecke, als er aus dem Zimmer ging.
    Da der Fernseher ohne Ton lief, war es sehr still im Raum. Einen kurzen Moment dachte Kirill darüber nach, wie man wohl aus einem Draht einen Dietrich baute. Er hatte einmal darüber gelesen, erinnerte sich aber kaum noch an den Artikel. Ein Fenster konnte er nicht einfach einschlagen, nicht in dieser Höhe, und die Polizei, wenn sie denn käme, würde ihn für einen Einbrecher halten und an Ort und Stelle verprügeln.
    Verprügeln , das tat vielleicht auch Lea gerade jetzt, in diesem Augenblick. Ein absurder Gedanke. Kirill konnte sich Lea überhaupt nicht bei Gewalttätigkeiten vorstellen. Das war ungefähr so, als würde man versuchen, sich auszumalen, wie jemand mit einem Blumenstängel erwürgt wird.
    Das einzige Mal, da er selbst handgreiflich gewordenwar – es war ihm fast unangenehm, in diesem Moment dem allgemeinen Trend zu folgen und ausgerechnet darüber nachzudenken –, das einzige Mal, bisher, war passiert, als er sieben Jahre alt war. Begonnen hatte alles mit dem Verbot, den Dachboden des Großvaters auf eigene Faust zu betreten. In Ordnung, dann eben mit Begleitperson. Aber es wollte sich kein Mensch finden, der bereit war, mit dem Kind nach oben zu gehen und ihm stundenlang dabei zuzusehen, wie es in den seekistenförmigen, teils umgestürzten Schränken und Kommoden stöberte, alte Kleider anprobierte und das poröse Label von verschiedenen Uralt-Schallplatten abkratzte, um sie für alle Zeiten unkenntlich zu machen. Nein, niemand wollte sich das antun. Also war er doch allein die Treppe hinaufgeschlichen. In einem der leeren Kästen konnte man vorzüglich Houdini spielen.
    Erst am Abend fand man den um Hilfe schreienden, vor Angst halb wahnsinnigen Kirill in seinem nach modrigen Kleidern und Mottenkugeln stinkenden Verlies, schimpfte ein wenig mit ihm, ließ ihn aber bald in Ruhe, da das Kind bei jeder Berührung in Ohnmacht zu fallen drohte und im Minutentakt von einem hysterischen Zustand in den nächsten verfiel. Später, als er im Bett lag, kam die Mutter zu ihm und wollte dem Gewissen ihres Sohnes noch ein paar mahnende Worte mit auf den Weg in den Schalldämpferbereich seiner Träume geben. Sie sprach die Vorkommnisse auf dem Dachboden mit keiner Silbe direkt an, fragte aber, während sie mit der Hand die immer noch fiebrige Stirn des Buben streichelte, warum er sich denn von allen Decken befreit habe, immerhin sei es doch Winter – ob er vielleicht Angst habe, die Decken würden ihn im Schlaf ersticken.
    Zum zweiten Mal an diesem Tag mussten die Hausbewohner aus ihren gewohnten Tätigkeiten hochfahren und einer schreienden Stimme zu Hilfe eilen. Kirill hatte seine Mutter übel zugerichtet. Er hatte ihr in einem Anfall rätselhafter Selbstverteidigung die Nase blutig geschlagen. Sein Vater weinte die halbe Nacht über den Vorfall.
    Kirill schaltete zwischen den lautlosen Sendern hin und her. Auf einem sah man einen Teig in Großaufnahme, der von zwei geschmeidigen Rührstäben wie von Synchronschwimmerinnen bearbeitet wurde. Auf einem anderen Sender lief ein Schachspiel. Dem linken Kontrahenten klebte ein einzelnes schweißnasses Haar auf der Stirn. Es machte Kirill nervös, es anzusehen. Da er nicht in den Bildschirm greifen und es dem schwitzenden Großmeister aus der Stirn streichen konnte, schaltete er weiter. Eine amerikanische Serie über Dämonen, die sämtliche Taxis in New York in ihre Gewalt gebracht hatten. Wer zu Fuß ging, bemerkte die ganze Geschichte gar nicht und kam in der Serie auch nicht vor. Alle wichtigen Charaktere fuhren pausenlos Taxi.
    Er stellte sich imaginäre Gespräche der stimmlosen Figuren vor. Ein Polizist unterhielt sich mit einem Mädchen, das eine Attacke der Dämonen nur knapp überlebt hatte. Sie saß in den geöffneten hinteren Türen eines Krankenwagens, eine Decke um die Schultern geschlagen, und hielt einen Becher dampfenden Kakao in den Händen. Kirill murmelte:
    – Sie halten den Kakao falsch.
    – Ja, ich weiß.
    – Der Kakao wird das nicht lange dulden.
    – Ja …
    – Er wird immer kälter, immer kälter (der Polizist las unpassenderweise plötzlich etwas aus seinem Notizblock vor), bis er sie eines Tages verlässt – durch den Hinterausgang.
    (Die Frau sprang auf.)
    – Nein! Neeeiiiin!
    Ein Dämon näherte sich von hinten und fiel den Polizisten an. Er zerrte den
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