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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
Autoren: Setz Clemens J.
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mehr eine dicke Kerze zwischen den Händen. Habe ich etwa die Kerze für ein Ferkel gehalten? Ich betrachte die Kerze von oben. Der Docht ertrinkt langsam, löst sich im milchigen Weiß auf. So wie ein Insekt oder die zwinkernde Silhouette eines weit entfernten Vogels in der großen, dunkelgelben Sonnenscheibe am Abend.
    Der Zirkus, der Zirkus.
    Ein einzelner Ast, dünn und biegsam, taucht aus der Kerzensäule auf. Am spitzen Ende teilt sich der Ast, undes werden zwei daraus, aus den zweien werden vier, und so weiter. Mehrere Äste sprießen aus der Kerze. Es ist schwer, den Überblick zu behalten. Bald sind es so viele Äste, dass ich sie nicht mehr zählen kann. Alles, was ich weiß, ist, dass es eine gerade Anzahl sein muss, schließlich teilen sie sich an jedem Ende immer nur in zwei. Das Dickicht erreicht bereits die Zimmerdecke. Die Aufgabe, die sich mir jetzt stellt, ist eigentlich sehr einfach: Ich muss die Äste ordnen, nach Größe und Anzahl ihrer Ausläufer, ein paar habe ich schon geschafft. Es wird nicht länger als ein paar Stunden dauern. Vielleicht kann ich sie auch ein wenig zurückbiegen, glatt streichen. Es geht nicht.
    Die Stimmen vor der Tür teilen sich, wenn ich die Äste auseinanderhalte. Es ist ungeheuer schwer, ich brauche meine ganze Kraft. Nichts ist mir je so schwergefallen. Meine Finger krallen sich immer tiefer in die komplizierte Blume aus Falten in der zerknitterten Bettdecke.

    Eine der Stimmen vor der Tür wurde lauter, protestierte gegen etwas, wurde nicht gehört, ging plötzlich unter und verstummte. Es war die Stimme meiner Mutter. Die Tür öffnete sich, und sie kam zu mir. Gott sei Dank begleitete sie niemand, nicht Pater Johann, auch nicht der Lehrer, auch nicht mein Bruder, obwohl ich mich vielleicht gefreut hätte, mit ihm zu sprechen, seine Entschuldigung zu hören und anzunehmen. Dass ich krank im Bett lag, bewies schließlich, dass seine Attacke ungerecht gewesen war.
    Meine Mutter setzte sich zu mir ans Bett.
    – Komm her, sagte sie, mit kraftloser Stimme, als hätte sie gerade geweint.
    Sie sah mich nicht an, aber sie hob ein wenig die Arme, als Einladung – ich setzte mich im Bett auf. Jetzt erst bemerkte ich, wie unerträglich heiß mein Rücken war. Wieder überkam mich der Drang, mich zu bewegen, zumindest wollte ich das verschwitzte und festklebende Hemd abstreifen.
    Meine Mutter nahm mich in den Arm und legte mir eine Hand in den Nacken. Sie befühlte meinen Hals, tastete ihn ab wie nach Knoten oder Insektenstichen und murmelte:
    – Vielleicht einmassieren … wenn man es entlang der Speiseröhre …
    Ich verstand nicht, und sie sprach weiter zu sich, während ihre Finger meinen Hals auf und ab tanzten und Informationen sammelten:
    – Hier …
    Sie drückte mich ein wenig von sich, auf Distanz, ihr ernster Blick begegnete mir, ihr besorgter, ängstlicher Blick, als hätte ich mich in ihren Armen in einen Dinosaurier verwandelt. Ihre Hände spielten weiter auf meinem Hals herum. Sie war sehr vorsichtig, trotzdem war es unangenehm, und ich traute mich nicht zu schlucken. Aber ich sagte nichts. Ich hatte begriffen, dass der Augenblick sehr wichtig für sie war.
    Schließlich stand sie auf, ihre Wangen waren ein wenig gerötet. Sie seufzte erschöpft und ging zur Tür. Sie öffnete sie für die anderen Besucher – also waren sie doch alle zu mir gekommen; diese plötzliche Erkenntnis ließ mich erschaudern. Was wollten sie alle von mir,alle zur gleichen Zeit? Der Priester kam als Letzter ins Zimmer.
    Er sprach sehr leise mit meiner Mutter, ich konnte nicht verstehen, was er sagte, aber dafür hörte ich meine Mutter:
    – Ja schon … aber wenn wir es vielleicht ganz fein zermahlen, sodass es … quasi wie ein Pulver … vielleicht verletzt es dann nicht so …
    Aber Pater Johann schüttelte den Kopf.
    Ich hielt die Anspannung und Ungewissheit der Situation nicht mehr aus und zog die Bettdecke über meinen Kopf. Sofort wurde sie wieder weggerissen, der Lehrer nahm die Decke an sich und knüllte sie schnell zu einem Ball zusammen, wie um sie unschädlich zu machen.
    – Felix, sagte Pater Johann, steh bitte auf. Komm her.
    Wie lange hatte ich meinen Vornamen nicht mehr gehört?
    Ich tat, was er von mir verlangte. Ich stand vor ihm. Seine Hand machte das Kreuzzeichen über mir, die andere hielt etwas hinter seinem Rücken versteckt.
    – Dalleib Christi, murmelte er.
    Ich kannte den Ablauf. Automatisch öffnete ich den Mund.
    Seine Hand kam hinter dem Rücken
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