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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
Autoren: Setz Clemens J.
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Ablenkungsmanöver. Oder nein, er selbst war zu einem der Bettler gegangen und hatte sich ihm angeboten. Oder dar geboten, mit dieser etwas raueren, schmutzigeren Silbe.
    Die letzte Version der Geschichte reizte mich ganz besonders. Wenn ich vielleicht was gesehen hätte … etwa den Moment, da Michael zum ersten Mal den Penner anspricht … Vielleicht bezahlte er sogar den Penner. Mit seiner Jacke. Und die war dem Penner hinterher zu klein gewesen, und er hatte sie deshalb hier abgelegt, als hätte sie jemand einfach vergessen. Oder besser– Michael war einfach plötzlich aus unserem Spiel verschwunden und hatte sich, schon im Fortgehen, die Jacke ausgezogen. Diese Geschichte war unschlagbar. Denn man wusste nichts, man konnte aber alles ahnen – wozu zog er die Jacke aus, wenn es doch schon beinahe Abend und ziemlich kühl war? Und warum war er plötzlich weggegangen? Diese Fragen brachten mir einen unerhörten Vorteil – man würde mir glauben, weil ich selbst so wenig wusste.
    Es war die wundervollste Entdeckung von allen: eine Geschichte, die einen Abend lang die Wirklichkeit verdrängte. Ich hatte den Wirkungsbereich meiner eigenen Stimme entdeckt. Ich hatte Gott gefunden, ich hatte ihn in mich aufgenommen.
    Es war der schönste Abend, den ich seit langem erlebt hatte. Keine Streitereien, kein Gebrüll. Mein Vater und meine Mutter saßen, in ein leises, bedeutungsvolles Gespräch versunken, nebeneinander am Küchentisch. Worum ging es? Um den Park natürlich. Um meinen Bericht, um mich – es ging um mich, ohne dass sie es merkten! Ich hatte auf ganzer Linie gesiegt.
    Sie berieten, ob der Park wirklich noch ein sicherer Ort für ein Kind war. Sollten sie mir überhaupt noch erlauben, zum Spielen dorthin zu gehen? Vielleicht war es ja auch die Schuld von Michaels Mutter, dass ihr Sohn verschwunden war. Ja, wer weiß, auch das konnte sein. Vernachlässigte sie ihren Sohn? Man würde mich später nach Hinweisen darauf befragen.
    Ich saß im Nebenzimmer vor meinem Teller Spaghetti, aber ich hörte alles. Ich aß so geräuschlos wie möglich. Ich hatte mir bewiesen, dass in meinem Kopf ein Ausgang existierte, ein Ausgang aus der täglichenHölle, aus den Streitereien und Kämpfen meiner Eltern. Ich brauchte meinen Bruder nicht mehr, um es zu ertragen. Mochte er doch bleiben, wo er wollte. Das erste hellblaue Aufflackern von Unabhängigkeit! Ich konnte mein Glück kaum fassen. Ich saß vor meinem Abendessen auf dem Sofa im Wohnzimmer und fand alles wunderschön: die alten Bilder an den Wänden, die schwarze Gesellschaft der zusammengeklappten Balkonsessel, die Tischplatte, die grüne Leselampe. Das leere Zimmer meines Bruders. Die geschlossene Tür.
    Mein Vater schlug vor, dass mich ab jetzt immer jemand begleiten sollte. Das heißt natürlich erst, nachdem die Suche abgeschlossen und Michael wieder aufgetaucht war. Vorher blieb der Park Sperrgebiet.
    Ich musste krampfhaft ein Lachen unterdrücken. Den Mund voller Nudeln, presste ich mir die Serviette auf die Lippen und zwang mich zu schlucken. In meiner Brust, knapp unterhalb meiner Kehle, implodierte ein kleiner Ball aus Glück.
    Ob er wohl immer noch dort stand, in der Toilette, die so ekelhaft stank, nach jahrhundertealtem Urin und den Exkrementen todkranker Männer? Es war herrlich, sich Michael vorzustellen, wie er mit seiner kurzen Hose auf einer der schmutzverkrusteten Klobrillen hockte und die Stellung hielt . Vielleicht war er auch irgendwann eingenickt. Es hätte mich nicht gewundert, denn es kam oft vor, dass Michael im Unterricht schlief.
    Ich nahm mir vor, ihn am nächsten Tag mit einer Beförderung zu belohnen, falls er es geschafft haben sollte, die ganze Nacht in der Kabine zu bleiben.
    Meine Mutter telefonierte an diesem wundervollfriedlichen Abend noch spät mit jemandem; auch das kam nicht oft vor. Sie sprach im Nebenzimmer, als ich schon längst im Bett war. Ich hörte ihre Stimme, sie sagte, dass es ihr leidtue, sie versprach irgendetwas, das ich nicht verstehen konnte, dann legte sie auf.
    Der Lichtspalt unter meiner Tür glühte auf und erlosch.

    Meine Entdeckung musste alles, wirklich alles verändert haben, denn am nächsten Morgen war die Wohnung leer – die Schuhe und Mäntel meiner Eltern fehlten –, und nur aus der Küche kamen Geräusche.
    Ich erwartete, dass Inge dort saß und mit ihren Fußsohlen redete. Ich schaute um die Ecke.
    – Hallo, sagte Bernd und sah von einem Glas Milch auf.
    Ich dachte daran, dass ich noch im Pyjama
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