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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
Autoren: Setz Clemens J.
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war – Bernd hasste es, wenn ich nicht richtig angezogen war, er nannte mich dann immer nackt, obwohl alles an mir verhüllt war.
    Dann erst dachte ich: Warum war er da?
    – Die Mama und der Papa kommen erst später, sagte er und kaute.
    Sein Ton überraschte mich. Die Mama und der Papa – so hatte er vorher nie gesprochen. Sonst hieß es immer sie . Er fasste sie beide immer zusammen. Etwas hatte ihn verändert während der Zeit, als er weg gewesen war. War er überhaupt zurückgekommen? Würde er wieder einziehen? Ich wusste nicht, was ich ihn fragen sollte.
    – Zieh dir vielleicht etwas an, wie wär das …?
    Ich blickte an mir herunter, nur um ihm zu zeigen, dass ich seinen Vorschlag ernst nahm, und ging zurück in mein Zimmer. Ich zog den Pyjama aus und holte eine saubere Unterhose aus dem Kleiderschrank. Auf dem Klavierschemel fand ich ein zusammengelegtes T-Shirt.
    Draußen hörte ich Bernd herumgehen. Suchte er etwas? Ein Schlüsselbund rasselte, und die Wohnungstür wurde zugesperrt.
    In Unterhose und T-Shirt ging ich ins Wohnzimmer. Bernd saß dort vor dem Fernseher, das Glas Milch stand vor ihm. Er hatte es immer noch nicht angerührt.
    – Komm, sagte er und tätschelte den Sofabezug neben sich.
    Auch diese Geste war neu. Einen Augenblick zögerte ich.
    – Bist du heute Morgen gekommen?, fragte ich ihn.
    Meine Stimme klang etwas schwach. Ich sah das Glas Milch an und räusperte mich.
    – Nein, schon in der Nacht, sagte er und drückte auf der Fernbedienung herum. Gleich nach dem Anruf … bin ich hergekommen …
    Der Anruf? War es das gewesen, was ich gestern im Halbschlaf gehört hatte? Meine Erinnerung an die Nacht war überraschend vage. Ich hatte zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wieder durchgeschlafen, traumlos und friedlich.
    – Gleich nach dem Anruf …, wiederholte er, Stück Dreck …
    – Was?
    – Wie, was?, fragte er zurück.
    – Warum sagst du Dreck zu mir?
    – Hab ich das? – er legte die Fernbedienung weg und tat erstaunt – also ich wüsste nicht … Ich habe dich doch sicher nicht ein kleines Stück Dreck genannt, oder?
    – Haha, sagte ich.
    Ich hoffte, dass er Spaß machte.
    – Ein kleines, wahnsinniges Stück Dreck … nein … nein, also das muss ein Irrtum sein, sagte er und legte zwei Finger auf seine Unterlippe, ein kleines Stück Scheiße, das vollkommen durchgedreht ist … nein, da musst du dich verhört haben …
    Ich stand auf.
    – Was soll –
    Da packte er mich bei den Schultern und hob mich hoch. Seine körperliche Kraft war immer noch die alte.
    – Ein richtiger kleiner Psychopath, sagte er und ließ mich auf den Boden fallen. Fünf Stunden. Fünf verdammte Stunden … weißt du, was das heißt? Fünf – Stun – den. Fast bis Mitternacht! Weißt du, was das heißt?
    – Ja, sagte ich.
    Ich fühlte, wie Tränen unter der Oberfläche meines Gesichts zusammenströmten. Sie waren auf der Suche nach einem Ausgang.
    – Was würdest du tun, wenn du bis Mitternacht in einem dreckigen Klo eingesperrt worden wärst?
    – Ich hab ihn gar nicht einge–
    – Und erst ein paar durchgedrehte Jugendliche finden dich und bringen dich nach Hause? So ein paar Wahnsinnige mit Glatzen und Bierdosen … Hm?
    Ich drehte mich um und ging in Richtung meinesZimmers. Bernd musste dort, wo er die letzten Wochen gewesen war, den Verstand verloren haben.
    Er holte mich ein, ich wehrte seinen Griff ab, er packte mich härter und hob mich wieder hoch. Ich strampelte.
    – Hat dir das Spaß gemacht, hm?, fragte er, sehr nah an meinem Ohr, hat dir das einen Kick gegeben? Hat er um Hilfe gerufen? Komm schon, erzähl’s mir! Ich bin dein Bruder, mir kannst du alles erzählen –
    Endlich ließ er mich los, ich rannte davon, in mein Zimmer. Er hinterher. Ich entkam ihm unters Bett. Ich rollte mich, so weit ich konnte, in die Dunkelheit. Sein Gesicht tauchte im Lichtspalt auf, fluchte. Er langte unters Bett, versuchte mich zu packen, aber ich lag zu weit entfernt. Er schlug mit der Faust auf den Boden und richtete sich auf. Seine nackten Füße gingen einmal ums Bett herum, dann hob er es auf einer Seite an.
    Ich bekam Panik und robbte auf der anderen Seite raus, schnell aus dem Zimmer, vorbei am gespenstischen, kahlen Baum des leeren Kleiderständers – warum waren alle verschwunden? – in die Küche. Aber da hatte er mich schon eingeholt, er war viel größer und schneller, entsetzlich groß und entsetzlich schnell, seine Hände krallten sich in meinen Schultern fest, drehten mich
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