Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
Autoren: Setz Clemens J.
Vom Netzwerk:
gewinnen, um ihm zu zeigen, dass ich nicht mehr wütend auf ihn war. Er bemühte sich zwar auch zu verlieren – vermutlich um mich zu beruhigen –, aber es gelang ihm nicht. Endlich hob seine Spielfigur die eckigen Arme zum Himmel und führte ihren Siegestanz auf. Nach drei Runden hatte Michael sogar ein Leben mehr als ich.

    Die schreckliche Kreuzigung auf der ersten Schauseite des Isenheimer Altars; ein Porträt des Elefantenmenschen Joseph Merrick; das nackt brennende Mädchen in Vietnam; der Lampenschirm aus Buchenwald; ein KZ-Häftling, der in einer Druckkammer ermordet worden ist, mit geborstenen Augenhöhlen; ein alter Kupferstich, der einen Pestdoktor zeigt, geschnäbelt und mit einem Stock zum Berühren der Kranken, vor ihm ein abgezehrter schwarzer Leichnam wie ein Büschel verbrannte Wolle; eine Werbepostkarte zum Film Eraserhead ; ein paar alte Kinderzeichnungen mit Tunneln, Kerzen und Altären; ein Rosenkranz; eine Bilderserie aus der Chronik der Medizin über das Steinschneiden im Mittelalter; die musikalische Hölle von Bosch; ein paar Seiten aus einem Kinderbuch mit Darstellungen von vergreisten Elfen, und die Elfen sind von einem Fluch befallen, der ihre Gesichter altern lässt und ihre Herzen in graue Pilze verwandelt, die irgendwann aus der Brust schlüpfen wie kleine lebendige Schirme – das grausamste Bild zeigt eine Wiese neben einem Wald, auf ihr eine Schar Elfen, Männer wie Frauen, die sich unter Todesschmerzen krümmen und die Hände gegen ihre Oberkörper pressen, um die Katastrophe aufzuhalten – das und eine Sammlung alter Actionfiguren waren in etwa der Inhalt der blauen Kiste. Als ich sie schon hervorgezogen hatte, merkte ich, dass ich sie heute nicht brauchen würde. Sie wanderte zurück in die Finsternis.

    Am nächsten Tag erhielt Michael seine zweite Abreibung, diesmal sozusagen in Abwesenheit.
    Wir waren alle im Park und spielten Geschwader. Ich liebte dieses Wort, obwohl ich nicht genau wusste, woher es kam. Es fühlte sich im Mund an wie ein geheimnisvoller schwarzer Lederhandschuh.
    Das Spiel sah folgendermaßen aus: Vier von uns waren die kampfkräftigste Einheit einer Sondereinsatztruppe, die nach einer nuklearen Katastrophe durch das Land zog und für Frieden und Disziplin sorgte. Die anderen drei waren Rebellen. Die Spielanleitung hatten wir von der Verpackung eines Videofilms.
    Das Spiel bestand aus Feuergefechten quer durch den ganzen Park. Als Waffen benutzten wir Äste.
    Ich gab Michael den Auftrag, sich zu verstecken. Über unsere gestrige Auseinandersetzung hatten wir nicht mehr gesprochen. Aber mir schien, dass er noch eine Spur unterwürfiger war als sonst. Er fragte mich, wo er sich verstecken solle. Ich brachte ihn zu dem kleinen Pavillon mit öffentlichen Toiletten, der in der Nähe der Volksgartenstraße stand. Die Tür zu den Männerklos stand offen, und ich stellte Michael in eine der Kabinen.
    – Bis wir dich rufen, sagte ich.
    Er salutierte. Für einen Augenblick brachten mich sein alberner Spieleifer, seine roten Wangen, sein vorstehender Unterkiefer wieder in Rage, aber ich riss mich zusammen und ließ ihn allein, er machte die Klotür zu. Ein obszöner Spruch erschien, begleitet von einer Telefonnummer. Ich ging noch einmal zurück und riet ihm, die Tür zu versperren. Ich wartete. Es dauerte eine Weile, dann färbte sich das kleine Kästchen unter der Türschnalle rot – besetzt .
    Das Spiel ging ungefähr eine Stunde ohne Unterbrechung weiter. Wir mieden den Teil des Parks, in dem einige der Mütter auf Bänken saßen und darauf warteten, dass ihre Söhne müde zu ihnen zurückkehrten.
    Diesmal war es anders – eine Mutter kam zu uns, mitten in unser Spiel von postapokalyptischer Vergeltung. Sie nahm von den Vorgängen allerdings nichts wahr, sondern sprach ihren Sohn Markus an, der gerade tot im Gras lag. Er stand sofort auf und ging mit ihr fort. Eine andere Mutter tauchte gleich nach ihr auf und fragte nach ihrem Kind.
    Ich kannte sie. Ich wartete.
    Wenig später waren alle am Suchen, ich eingeschlossen. Auf der schmalen Brücke über den Mühlgang entdeckte ich ein kleines Stofftaschentuch, das jemand um eine der Geländersprossen gewickelt hatte. Das Taschentuch verwandelte sich in eine Jacke, in eine Unterhose, in einen Pullover. In Michaels Pullover. Michael war entführt, im Gebüsch, in einem Hinterhof, auf dem Rücksitz eines Lieferwagens vergewaltigt worden, und anschließend war seine Jacke auf die Brücke gelegt worden, als
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher